11. Januar 2021

Zum Tod des Malers
Werner Rataiczyk

 

 

Vor einer Woche, am 3. Januar 2021, verstarb in seinem einhundertsten Lebensjahr der hallesche Künstler Werner Rataiczyk. Er war der letzte noch lebende Vertreter der Halleschen Schule. Über mehr als fünf Jahrzehnte schuf er ein ungemein vielseitiges Œuvre, das sich aus Malerei, Grafik, Zeichnung, Bildwirkerei, Glasfenstergestaltung und Puppentrickfilm zusammensetzte.

 

Beginn der künstlerischen Laufbahn in Halle (Saale)

Geboren wurde Werner Rataiczyk im nahegelegenen Eisleben. Nach einer Lehre als Gebrauchsgrafiker wurde er 1941 zum Kriegsdienst eingezogen und kam bei Kriegsende in Ägypten in britische Ge­fangen­schaft. 1947 kehrte er nach Deutschland zurück und begann in Halle (Saale) an der Kunstschule in der Burg Giebichenstein ein Studium bei dem Maler Erwin Hahs (1887–1970). Dieser prägte die künstlerische Handschrift Rataiczyks maßgeblich.

 

Von Beginn an entstand sein zunächst malerisches Werk in intensiver Auseinandersetzung mit den Vertretern der klassischen Moderne, jener Kunst die während der zwölf Jahre Nationalsozialismus als „entartet“ diffamiert worden war. Gemeinsam mit seinen Malerkollegen Hermann Bachmann (1922–1995), Herbert Kitzel (1928–1978), Ulrich Knispel (1911–1978) oder Kurt Bunge (1911–1998) gehörte er zu den wichtigen Vertretern der Halleschen Schule, die sich Ende der 1940er Jahre und in den 1950er Jahren in der Saalestadt herausgebildet hatte.

 

Die Hallesche Schule war keine Schule im akademischen Sinn, sondern eine nicht-institutionalisierte Gemeinschaft von Künstlern an der halleschen Kunstschule in der Burg Giebichenstein bzw. aus ihrem Umfeld nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Werke ihrer Vertreter kennzeichnet eine gemeinsame künstlerische Haltung und Bildsprache. Zeitlich geht die Hallesche Schule der in den 1960er Jahren bekannt gewordenen Leipziger Schule um Wolfgang Mattheuer (1927–2004), Werner Tübke (1929–2004) und Bernhard Heisig (1925–2011) voraus, künstlerisch unterscheidet sie sich von ihr durch eine intensive Auseinandersetzung mit der Kunst der klassischen Moderne und der Entwicklung einer neuen, stark expressiven Bildsprache.

Die prägenden Mentoren waren die beiden BURG-Professoren Charles Crodel (1894–1973) und Erwin Hahs, die bereits vor 1933 an der halleschen Kunstschule lehrten, von den Nationalsozialisten entlassen worden waren und nach dem Ende des „Dritten Reichs“ nach Halle (Saale) zurückkehrten. Hier prägten sie die junge Künstlergeneration, die nach dem Ende der repressiven Kunst- und Kulturpolitik der Nationalsozialisten nach einem neuen, der Zeit angemessenen Ausdruck suchten – und schon bald erneut mit den Vorstellungen der offiziellen Kulturpolitik kollidierten.

Schrieb 1949 noch der renommierte Dresdner Kunsthistoriker Fritz Löffler (1899–1988): „In Halle reifen eine Reihe beachtenswerter Talente, die aus der Schule Giebichenstein hervorwuchsen. Crodel als Schulhaupt ist eine dekorative Begabung, der einen großen Reichtum an Phantasie sein eigen nennt.“ – so kanzelte nur zwei Jahre später Walter Ulbricht (1893–1973), stellvertretender Ministerpräsident der DDR, die Kunst wie folgt ab: „Die bildende Kunst – Malerei, Graphik und Plastik – ist in der Deutschen Demokratischen Republik am weitesten zurückgeblieben. Es gibt kein einziges großes Werk, das für die weitere Entwicklung als beispielhaft hervorgehoben werden kann. Wir wollen in unseren Kunstschulen keine abstrakten Bilder mehr sehen. Wir brauchen weder die Bilder von Mondlandschaften noch von faulen Fischen und ähnliches. Die Grau-in-Grau-Malerei, die ein Ausdruck des kapitalistischen Niedergangs ist, steht in schroffstem Widerspruch zum neuen Leben in der Deutschen Demokratischen Republik.“ (Rede vor der Volkskammer der DDR zur Einführung des Fünfjahrplans am 31.10.1951)

Mit der Grau-in-Grau-Malerei war, ohne es auszusprechen, die Kunst in Halle (Saale) gemeint, die zu Beginn der 1950er Jahre in der Tat mehrheitlich von Grautönen beherrscht wurde.

Dies trifft vor allem auf die Werke Hermann Bachmanns und Willi Sittes (1921–2013) zu. Bachmann selbst beschrieb den Ton einmal als „gedämpftes Licht einer trüben Sicht“. Die Künstler der Halleschen Schule setzten sich mit ihrer Umwelt auseinander: Zerstörte Städte, Hunger und Not leidende Menschen und verlorene Freunde und Angehörige ermunterten kaum zu freudestrahlenden Werken. Melancholische Landschaften, einsame städtische Szenen, immer wieder aber vor allem irreal anmutende Kompositionen mit Gauklern, fahrendem Volk und Harlekinen bestimmen die Gemälde jener Jahre. Die Staatspartei SED jedoch duldete nur Werke, die dem Ideal des Sozialistischen Realismus folgten und dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft dienten. Hierzu war die Kunst der Halleschen Schule nicht zu rechnen.

In der Folge der 1948 beginnenden Diskussion über den Formalismus in der Kunst der DDR und der fortwährenden Angriffe der Kulturpolitik auf die Künstler verließen im Laufe der 1950er Jahre viele der zur Halleschen Schule gehörenden Künstler die Stadt und das Land und siedelten in die Bundesrepublik über, was gegen Ende des Jahrzehnts das Ende der Künstlergemeinschaft bedeutete.

 

Aufbau einer eigenen Existenz

Von den Anfängen 1947 an bis zu seinem Tod lebte Werner Rataiczyk in der Talstraße 23 im halleschen Stadteil Kröllwitz am Ufer der Saale. Die spätklassizistische Villa des ehemaligen Inhabers der Kröllwitzer Papierfabrik Albrecht Ludwig Keferstein (1792–1872) war in den 1950er Jahren eine reine Künstlervilla geworden. So lebten hier neben dem Ehepaar Werner und Rosemarie Rataiczyk u. a. auch die Maler Herbert Kitzel, Erhard Naumann und Georg Pütter (1915–1965) mit ihren Familien, aber auch die Keramikerin Heidi Manthey (* 1929).

In dieser Villa gründete das Ehepaar Rataiczyk 1952 seine private Gobelin-Werkstatt. In der Zeit der heftigen Auseinandersetzungen um die „richtige“ Kunst in der DDR, der sogenannten For­malis­mus­de­bat­te, wagten sie etwas Eigenes und entwickelten in der Nische der angewandten Kunst, der Textilkunst, großformatige Bildteppiche, die alles andere als den sozialistisch-realistischen Vorgaben entsprachen und dennoch in öffentlichen Gebäuden ihre Präsentation fanden.

In den 1960er Jahren beschäftigte sich Werner Rataiczyk intensiv mit der Drucktechnik der Lithografie und etablierte eine eigene Litho-Werkstatt.

Schließlich entstanden von den 1960er Jahren an bis in die 1990er Jahre zum Teil vielteilige und großformatige Glasfenstergestaltungen für Kirchen oder profane Gebäude, wie z. B. Speisesäle der Großkombinate in und um Halle (Saale).

 

Der moderne hallesche Bildteppich

Das Besondere und Bleibende des Schaffens von Werner Rataiczyk ist seine Neubelebung der Tradition des mitteldeutschen Bild­teppichs. Diesem Thema widmete das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) 2016 in Zusammenarbeit mit der Kunsthalle “Talstrasse“ die Ausstellung Gewebte Träume. Der Bildteppich in Mitteldeutschland. Reaktionen auf Jean Lurçat.

In Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen französischen Gobelinkunst von Jean Lurçat (1892–1966), Jean Picart Le Doux (1902–1982) und Marc Saint-Saëns (1903–1979) entwickelte Werner Rataiczyk in Deutschland eine neue, moderne Bildsprache in der Textilkunst und schuf die Kartons für die Bildteppiche, die im Anschluss seine Frau Rosemarie wirkte. Die großformatigen Arbeiten entstanden auch für zahlreiche prominente Orte, so z. B. für die Komische Oper und die Humboldt-Universität in Berlin oder das Kulturzentrum der DDR in Paris.

Werner und Rosemarie Rataiczyk: Klänge der Natur, 1985, Gobelin für das Kulturzentrum der DDR in Paris, 200 x 400 cm, Bundesrepublik Deutschland, Auswärtiges Amt, Foto: Matthias Rataiczyk © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

 

Der Aufbau der Gobelin-Werkstatt der Rataiczyks erfolgte parallel zur Beauftragung Willi Sittes im September 1952 mit dem Aus- und Aufbau der Fachklasse Textilgestaltung an der Burg Giebichenstein, die 1920 von Johanna Schütz-Wolff (1896–1965) begründet worden war. 1960 wurde die Textilmanufaktur VEB HAWEBA gegründet, seit 1966 ein Betrieb der halleschen Kunstschule Burg Giebichenstein (heute: Staatliche Textil- und Gobelinmanufaktur Halle GmbH).

 

Die Dauerausstellung zur Kunst in der SBZ/DDR

2017/18 richtete das Museum eine vollkommen neue Dauer­aus­stel­lung zum Kernbestand seiner Sammlungen ein, der Kunst der Moderne im 20. Jahrhundert. Unter dem Titel Wege der Moderne werden in vier Abschnitten die Kunst im Kaiserreich, die Kunst in der Weimarer Republik, die Kunst im „Dritten Reich“ und die Kunst in der SBZ/DDR gezeigt – Werke, die jeweils in Aus­einan­der­setzung mit den kulturpolitischen Rahmenbedingungen der Gesellschaftssysteme entstanden.

Den Auftakt zur Kunst in der SBZ/DDR macht am Beginn des Parcours im 1. Obergeschoss des Nordflügels der Moritzburg eine Zusammenstellung von wesentlichen Vertretern der Halleschen Schule – Werke von Erwin Hahs, Hermann Bachmann, Kurt Bunge, Herbert Kitzel und Werner Rataiczyk. Sein Trauriger Harlekin von 1955 tritt seit Kurzem in einen Dialog mit dem 2020 erworbenen Burgfest (1948) seines Lehrer Erwin Hahs, in dessen Zentrum ebenfalls ein als Harlekin verkleideter Teilnehmer der legendären BURG-Faschingsfeste steht.

Weitere Informationen zur Sammlungspräsentation Wege der Moderne. Kunst in Deutschland im 20. Jahrhundert

Virtueller Rundgang durch die Sammlungspräsentation Wege der Moderne. Kunst in der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1990

Blick in die Sammlungspräsentation „Wege der Moderne. Kunst in Deutschland im 20. Jahrhundert – Kunst in der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1990“ mit Werken der Halleschen Schule, v. l. n. r.: Burgfest (1948) von Erwin Hahs, Graue Familie vor Landschaft (1959) von Herbert Kitzel und Trauriger Harlekin (1955) von Werner Rataiczyk, Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Nachlässe Erwin Hahs und Herbert Kitzel sowie VG Bild-Kunst, Bonn 2021

 

 

Wahre Kunst ist stärker als repressive Kulturpolitik! Das beweist die Existenz der ausgestellten Werke aus unseren Sammlungen. Ihre öffentliche Präsenz mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung straft die kunst- und menschenverachtenden Ziele der DDR, wie sie 1951 Walter Ulbricht formulierte, Lügen. Werner Rataiczyk blieb sich und seinen künstlerischen Überzeugungen ein Leben lang treu.

Wie anders demgegenüber der Weg seines gleichaltrigen Zeitgenossen Willi Sitte verlief, das zeigen wir Ende des Jahres mit der ersten großen Werkschau dessen Œuvres seit vier Jahrzehnten Sittes Welt. Willi Sitte: Die Retrospektive. In der Begleitpräsentation aus Sammlungsbeständen im 2. Obergeschoss des Nordflügels werden dann parallel dazu auch Werke von Werner Rataiczyk zu sehen sein.

Weitere Informationen zur Sonderausstellung
Sittes Welt. Willi Sitte: Die Retrospektive

 

 

 

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Video-Beitrag

Jahrhundertkünstler Werner Rataiczyk verstorben


MDR Sachsen-Anhalt heute, 4. Januar 2021

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Online-Beitrag

Hallescher Maler Werner Rataiczyk gestorben


MDR Kultur, 4. Januar 2021

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Online-Portal

Werner Rataiczyk in der Werk-Datenbank Bildende Kunst Sachsen-Anhalt


Verband Bildender Künstler Sachsen-Anhalt

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Pressemitteilung

Kulturminister Robra zum Tode von Werner Rataiczyk


Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt Pressestelle, 7. Januar 2021

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Literatur-Tipp

Gewebte Träume. Der Bildteppich in Mitteldeutschland. Reflexionen auf Jean Lurçat


Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), hrsg. v. Matthias Rataiczyk und Christin Müller-Wenzel in Verbindung mit Thomas Bauer-Friedrich, Halle (Saale) 2016, 96 S.

ISBN: 978-3-932962-89-9

Zur Bestellung

Literatur-Tipp

Werner Rataiczyk. Von der Landschaft zur Abstraktion


Katalog zur Ausstellung des Anhaltischen Kunstvereins Dessau e. V. im Meisterhaus Kandinsky/Klee in Dessau, hrsg. v. Matthias Rataiczyk und Christin Müller-Wenzel für den Kunstverein "Talstrasse"e. V., Halle (Saale) 2010, 52 S.

ISBN: 978-3-932962-56-1

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Literatur-Tipp

Werner Rataiczyk. Das malerische Werk


hrsg. v. Kunstverein "Talstrasse" e.V., Halle (Saale) 1996, 160 S.

Zur Bestellung


Rataiczyk. Bildteppiche


Rosemarie und Werner Rataiczyk (Hrsg.), Dößel 2004, 84  S.

ISBN: 3-89923-054-X

Video zum Thema Bildteppich

The Art of Making a Tapestry

Film über die Entstehung von Tapisserien, produziert anlässlich der Ausstellung Woven Gold. Tapestries of Louis XIV 2016 im J. Paul Getty Museum, Los Angeles, 9 Minuten

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