23. September 2022

Porträt XY ungelöst: Folge I

 

Carl Joseph Begas d. Ä.
Bildnis eines bärtigen Mannes
1841
Öl auf Pappe
21 x 16 cm
Inv.-Nr. MOI00273

Erworben 1946 von Frau Dora Begas, Halle (Saale), der Witwe eines Enkels des Künstlers

 

„Unbekanntes Bildnis“: In Museumssammlungen finden sich immer wieder Werke mit solchen oder ähnlichen Bezeichnungen. Fehlt auch noch die Angabe, wer sie gemalt hat, führen solche Gemälde ein „Schattendasein“ im Depot, falls es sich nicht um sonst außergewöhnliche oder bemerkenswerte Werke handelt. ‒ Sind die Künstlernamen nun bekannt oder auch nicht, so gelten jedenfalls die Dargestellten als anonym. Im Folgenden soll versucht werden, diese Anonymität zu lüften, wobei die Leserinnen und Leser dieses Blogs aufgefordert sind, sich an diesem Versuch zu beteiligen.

Carl Joseph Begas d. Ä. (1794‒1854) war ein Berliner Maler, der die Kunstströmungen der Romantik und des Biedermeier wesentlich mitbestimmte. Er schuf Heiligen- und Historienbilder, Genrebilder und Porträts. Das Gemälde „Christus treibt die Wechsler aus dem Tempel“ (um 1822/23) steht noch ganz unter dem Einfluss der Nazarener in Rom, wo sich Begas von 1822 bis 1825 aufhielt.

Der 1809 gegründete Lukasbund vereinigte junge Künstler, die eine Erneuerung der religiösen Kunst anstrebten und sich dabei an der deutschen und italienischen Renaissance orientierten. Von der späteren Kunstgeschichte wurden sie als „Nazarener“ bezeichnet.

 

Carl Joseph Begas: Christus treibt die Wechsler aus dem Tempel, um 1822/23, Öl auf Holz, 26 x 29 cm, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Punctum/Bertram Kober

 

Das hier vorgestellte „Bildnis eines bärtigen Mannes“ zeigt einen beeindruckenden Charakterkopf mit langem Haar und wallendem Bart. Dies lässt zusammen mit dem nach oben gerichteten Blick an die Gestalt eines Sehers, eines Propheten oder Heiligen denken.

 

Carl Joseph Begas: Bildnis eines bärtigen Mannes, 1841, Öl auf Pappe auf Holz, 21 x 17 cm, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Punctum/Bertram Kober

 

Die schwer leserliche Aufschrift auf der Rückseite, offensichtlich vom Künstler selbst stammend, ist eine Art Widmung: „Geschenk für Milleray Berlin 1841“. Die Rückseite weist außerdem eine Herstellermarke der für die Qualität ihrer Materialien berühmte Künstlerbedarfsfirma „Roberson & Co.“ in London auf, die allerdings keinen Fingerzeig auf die Identität des Dargestellten bietet.

 

Details der Rückseite, Fotos: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Dr. Albrecht Pohlmann

 

Eine Person dieses Namens ist in den Berliner Adressbüchern der 1840er und 1850er Jahre nicht nachweisbar. Der Name eines französischen Adelsgeschlechts de Milleray taucht in der Geschichte des 17. Jahrhunderts auf, als der mächtige Kardinal Richelieu (1585‒1642) seinen Neffen Charles de La Porte (1602‒1664), den späteren Herzog de Milleray (eigentlich De La Meilleraye), zum Marschall von Frankreich erhob. Vielleicht handelt es sich bei dem hier verwendeten Namen um einen Spitznamen, der sich auf diese historische Persönlichkeit bezieht.

Dass eine reale Persönlichkeit hinter dem Namen steht, macht nicht nur die Widmung deutlich, sondern auch der Briefwechsel des Künstlers mit seinem Sohn Oscar Begas (1828‒1883), der ebenfalls Maler war. Am 13. Dezember 1849 schreibt der Vater dem Sohn, der an der Dresdener Kunstakademie studiert:

 

 

Ich schreibe Dir eigentlich sofort wieder, um Dir zu sagen, daß Milleray jetzt wieder hier ist, er war heute bey mir, und ich kam überein mit ihm, daß wenn Du ihn vielleicht während Deines Hierseyns besuchen solltest, ich ihn so bald als möglich benachrichtigen würde. ‒ Schreibe mir also gleich ob Du eine Studie nach ihm für passend zu Deinem Bilde hältst, und für welchen Tag ich ihn bestellen soll, vielleicht könntest Du den dritten Feyertag damit beginnen.

[...]

Scheint Dir der Milleray nicht passend, so sage mir ob ich irgend einen anderen Kopf mit weißen Haaren auftreiben soll.

Brief von Carl Joseph Begas d. Ä. an seinen Sohn Oscar Begas, 13. Dezember 1849

 

 

Es handelt sich bei „Milleray“ also um eine Person mit einem „Charakterkopf“, die Künstlern Modell saß und damit zu einer Gruppe gehörte, wie sie seit dem 19. Jahrhundert vor allem im Umkreis von Kunstakademien typisch war: Menschen, die ihren Lebensunterhalt durch allerlei Gelegenheitsarbeiten verdienten, wozu das Modellstehen gehörte. Den biblischen oder weltlichen Historienbildern der Zeit lagen meistens Studien nach realen Menschen zugrunde, die auf diese Weise „verewigt“ wurden und doch meist anonym blieben. Den sozialen Status dieser Modelle würden wir heute „prekär“ nennen – kein Wunder, dass sie meist nicht in den Adressbüchern der Zeit auftauchen.

Oscar Begas war um diese Zeit mit der Vorarbeit an einem Gemälde zur biblischen Jakobslegende beschäftigt – vermutlich wollte er die Szene der Versöhnung Jakobs mit seinem Schwiegervater Laban darstellen, für den der weißbärtige Kopf von „Milleray“ passend gewesen wäre, aber auch der „Mädchenkopf“ (für Jakobs Frau Rahel), für den der Vater im gleichen Brief ein Modell zu suchen vorschlägt. Diese Komposition zur Jakobslegende von Oscar Begas scheint entweder nicht ausgeführt worden zu sein oder muss als verschollen gelten.

Es ist zu vermuten, dass „Milleray“ bereits 8 Jahre zuvor – damals noch nicht weißhaarig – Begas d. Ä. gute Dienste als Modell geleistet und deshalb sein eigenes Porträt als Geschenk erhalten hatte – dies könnte die rückseitige Widmung des Gemäldes erklären.


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albrecht.pohlmann(at)kulturstiftung-st.de