17. April 2022

Das Ei und die Fotografie

Andere Sichtweisen auf das beliebte Osterfundstück

 

Das diesjährige Osterfest wollen wir zum Anlass nehmen und einen Blick auf das (Hühner-)Ei in der Fotografie werfen. Das Ei als Fotomotiv? Klingt vielleicht ungewöhnlich, doch galt das Hühnerei seit der Moderne als das „Normalobjekt“ für Belichtungsstudien von Fotografinnen und Fotografen (Thilo Koenig). Beispiele zeigen, wie es den Künstlerinnen und Künstlern gelang, den Betrachtern eine neue Perspektive auf dieses alltägliche Nahrungsmittel zu bieten.

 

 

Aus der Stilrichtung des Neuen Sehens sind Hans Finslers (1891–1972) Belichtungsstudien des Eis wie beispielsweise „Zwei Eier, Positiv“ von 1929 weithin bekannt, doch widmete er sich auch später noch in Belichtungsexperimenten dem Ei. So entstand 1950 die Aufnahme „Drei Eier, Positiv“, in welcher die Eier in einem Dreieck komponiert sind und zu schweben scheinen. Denn sowohl in der Fotografie, Malerei und dem Film definieren Schatten den Kontakt zwischen Objekt und Boden – hier werfen die Eier jedoch gar keinen Schatten auf den Hinter- bzw. Untergrund. Wie um die Sonne kreisende Planeten besitzen die Eier eine ‚Tag-‘ und eine ‚Nachtseite‘. Der einzige Schatten, der geworfen wird, geht von dem oberen Ei aus und zeichnet sich auf dem unteren, hinteren ab. Und auch wenn man vermuten könnte, dass Finsler die Eier auf Stäben positioniert hat und senkrecht von oben fotografierte, ändert es nichts an dem Eindruck dreier schwebender Objekte.

Zehn Jahre später probierte sich mit einem sehr differenten Ergebnis Rolf Herkner (*1937) am Hühnerei. „Das Ei an sich“ von 1960 lässt auf den ersten Blick nicht viel von einem natürlichen Ei erkennen.

„Das Ei an sich“ auf www.herkner-photodesign.de

Stattdessen zieht eine zarte Linie in einem kaum in Kontrast zum Weiß stehenden Grau, welches sich zur Bildmitte wieder ins Weiß abstuft, die ovale Form eines Eis. Herkner erreichte diesen Effekt, indem er das Licht auf einen weißen Reflektor über dem Ei warf, was für ein sehr diffuses Licht sorgte, und um das Ei einen schwarzen Karton aufstellte. Dieser absorbierte das Licht gerade genug, um die Form des Eis auf dem weißen Untergrund hervorzuheben. „Das Ei an sich“ zeigt also genau das, was der Name sagt: den markanten ovoiden Umriss des Eis. Durch diese Art der Beleuchtung glaubten viele Betrachter statt einer Fotografie eine Bleistiftzeichnung vor sich zu haben.

 

Laura Bielau: 10 Eier (aus COLOR LAB CLUB), (Nr. 4, 5, 6), 2015, Fotogramm, 33 x 27 cm, © Laura Bielau

 

Nun folgt ein großer Schritt in die Gegenwart: zu Laura Bielau (*1981) und ihrer Fotogramm-Serie „10 Eier“ von 2015. Bei einem Fotogramm wird Licht direkt auf das Fotopapier gestrahlt, ohne erst durch eine Linse auf das Negativ in einer Kamera gebündelt zu werden. Das Objekt zwischen Lichtquelle und Fotopapier ist später in seiner Silhouette bzw. Struktur (falls es sich um transparente Stoffe handelt) erkennbar. Bielau wählte als solches Objekt das Ei: Auf zehn Bildern ist die weiße Silhouette eines Eis auf gelbem Grund zu sehen. Die Position der Silhouette im Bild variiert dabei, ändert sich aber nicht in ihrer ovalen Form. Der gelbe Untergrund kehrt das Innere des Eis gewissermaßen nach außen. Neben der charakteristischen Form fügt Bielau im Vergleich zu Herkner somit noch die stoffliche Eigenschaft des Hühnereis in ihrer Serie hinzu – wenn auch formal ebenso sehr abstrahiert.

Doch warum das Hühnerei? Vielleicht ist Hans Finslers Formulierung von 1969, mit der er sich auf Johann Jakob Bachofen bezieht, ein Denkanstoß in die richtige Richtung:

 

 

‘In der Religion ist das Ei Symbol des stofflichen Urgrunds der Dinge, der Schöpfungs-Urgrund und Beginn.’ Der stoffliche Urgrund der Dinge, der aus sich alles Leben und Licht gebiert, umschließt beides, Werden und Vergehen. Er trägt zu gleicher Zeit die Licht- und Schattenseiten der Natur in sich.

Manuskript zu: Hans Finsler, Mein Weg zur Fotografie II, 1969, Nr. 6

 

 

 

Ganz pragmatisch gesehen sind Licht und Schatten für die Fotografie essenziell, sind gewissermaßen der Urgrund, aus dem das Bild entsteht und tragen zu seiner Magie bei. Schließlich: Für die Fotografie eignet sich das Ei mit seiner minimalistischen Form und Struktur und nicht zuletzt auch in seiner großen Verfügbarkeit ideal für experimentelle Belichtungsstudien und die Schulung des Auges.

In diesem Sinne – schenken Sie dem Ei zu Ostern nicht nur einen religiös motivierten oder kulinarisch gefärbten Blick, sondern auch seiner visuellen Erscheinungsweise Ihre Aufmerksamkeit.


Zur Vertiefung

Aus­stel­lungs­ka­ta­log

Hans Finsler und die Schwei­zer Foto­kul­tur. Werk, Fo­to­klas­se, mo­der­ne Ge­stal­tung. 1932–1960


Thilo Koe­nig/Mar­tin Gas­ser (Hrsg.), Zü­rich Mu­seum für Ge­stal­tung 10. Juni bis 17. September 2006, Zürich 2006