04. Juni 2021

Claude Cahun: „Aveux non avenus“, von 1930

Der komplexe Kosmos des surrealistischen Selbstbildes

Entdeckungen #6

 

Seit einiger Zeit schlummernd, befindet sich in der Sammlung Fotografie in der hinteren Ecke eines Depotschranks eines der verborgenen Glanzstücke an der Grenze zwischen Fotokunst und Literatur: Claude Cahuns Aveux non avenus, das nach zehnjähriger Arbeit 1930 in der Éditions du Carrefour von Pierre G. Lévy in Paris erschien.

Claude Cahun (1894–1954) war in der deutschen Kunstbetrachtung lange Zeit weitestgehend unbeachtet. Abgesehen von einigen kunsthistorischen Texten gab es nur eine Einzelausstellung von Cahuns Fotografien mit Stationen in München, Graz und Essen. Das war 1997/98! Ausdruck dessen ist auch die Nicht-Übersetzung der literarischen Hauptwerke und gesellschaftspolitischen Abhandlungen vom Französischen ins Deutsche: Vues et Visions (1914), Aveux non avenus (1930), Les Paris sont ouverts (1934) liegen immer noch nur in der Originalsprache vor. Die Gender- und Feminismusforschung hingegen diskutierte intensiv die lebenslange Auseinandersetzung Cahuns mit dem eigenen Körper, die Grenzauflösung von Mann und Frau mit nichtbinärer oder genderfluider Geschlechtsidentität, das offene Lesbisch-Sein Cahuns und die weit vorausgreifenden, modernen Ansichten des von Cahun gelebten Frauen- oder besser Menschenbildes.

 

 


 

Meine Ansicht über die Homosexualität und die Homosexuellen ist genau die gleiche wie meine Meinung über die Heterosexualität und die Heterosexuellen: alles hängt vom Individuum und den Umständen ab.


Ich trete für die allgemeine Freiheit der Sitten ein.


 
 Claude Cahun in „L’Amitié“, 1925, Nr. 1 

 

 

Es folgt eine erste kleine Annäherung (und Bewegung gegen das Vergessen) an einen schreibenden, fotografierenden, schauspielernden, bis zum Widerstand gegen den Faschismus politisch aktiven Menschen inmitten der bekannten Surrealisten und französischen Denker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie André Breton, René Crevel, Lise Deharme, Robert Desnos, Henri Michaux, Sylvia Beach, Georges Bataille und Jacques Lacan.

 

Bereits der typografisch gestaltete Titel deutet die Komplexität in Cahuns textlichen und bildlichen Äußerungen an: Aveux non avenus heißt im Deutschen in etwa Nichtige Bekenntnisse, Nicht geschehene oder Nicht zulässige Geständnisse. Mit Verweis auf die Bekenntnisse von Augustinus und Jean-Jacques Rousseau, zerstört das non die Erwartung auf eine klassische Autobiografie. Zehnmal taucht dieses kleine Wort auf dem Cover auf − jeweils in Form eines kleinen Andreaskreuzes, dann eingebunden in den gesamten Titel als Griechisches Kreuz und schließlich im gesamten typografischen Konzept liegen Andreaskreuz und Griechisches Kreuz übereinander. So erscheint schon die Titelgestaltung als Warnung. Aveux non avenus stellt keine Lebensbeichte dar, vielmehr ging es Cahun um den Versuch, Unsagbares zu formulieren, sich mit dem Wechselspiel von Sprache, Bild und Identität auseinanderzusetzen.

Der Blick ins Inhaltsverzeichnis offenbart neun Kapitel, die zumeist mit drei Versalien betitelt sind. Nicht immer lassen sich die Buchstabencodes entschlüsseln: I.O.U. bedeutet etwa „I Owe You“. Zu Beginn eines jeden Kapitels nimmt eine Fotomontage, für die Auflage im Edeldruckverfahren der Heliogravüre vervielfältigt, Bezug auf die Inhalte. Während die Texte zweifelsfrei von Cahun stammen, sind die künstlerischen Anteile bei den bildnerischen Werken nicht ganz klar: Die Fotomontagen müssen als Gemeinschaftswerke von Claude Cahun und Marcel Moore betrachtet werden.

Claude Cahun, Aveux non avenus, 1930, Paris: Éditions du Carrefour, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Nachlass Claude Cahun

 

Suzanne Malherbe (1892–1972) und Lucy Renée Schwob lernten sich bereits im Teenageralter in Nantes kennen und lieben. Seit 1910 arbeiteten beide künstlerisch zusammen. Lucy Renée Schwob veröffentlichte Texte ab 1917 unter dem Namen Claude Cahun, Suzanne Malherbe wählte den Namen Marcel Moore. Die Entscheidung für einen geschlechtsneutralen oder männlichen Namen als Pseudonym oder Alter Ego war nichts Neues − George Sand, Gérard d'Houville oder David Stern sind nur einige Beispiele. 1921 zogen Cahun und Moore nach Paris in die Rue Notre-Dame-des-Champs am Montparnasse und betrieben dort 15 Jahre, in dem Moment als die „neue“ Frau in Erscheinung trat, einen Künstler*innensalon. 1937 floh das Paar vor den Nationalsozialisten auf die Kanalinsel Jersey und arbeitete von seinem Anwesen „La Roquaise“ aus im Widerstand gegen den Faschismus: 1944 wurden beide von der Gestapo verhaftet, zum Tode verurteilt und 1945 begnadigt. Ein Großteil des Werks von Cahun wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und erst in den 1980er Jahren wurden die verbliebenen fotografischen Arbeiten und Negative auf Jersey geborgen.

 

 

Den zusammen kompilierten verschiedenen Textarten in Aveux non avenus wie Prosatexten, Briefen, Traumschilderungen, Aphorismen, manifestartigen Passagen, Dialogen und Tagebucheinträgen entspricht in der bildlichen Bezugnahme die Fotomontage. Zeichnungen, typografische Elemente, gefaltete Manuskriptseiten, ausgeschnittene, sich wiederholende Selbstporträts unterstreichen die Vielfältigkeit sowohl in den surrealistischen Gestaltungsmöglichkeiten als auch in den inhaltlichen Themen.

 

Claude Cahun, Aveux non avenus, 1930, Paris: Éditions du Carrefour, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Nachlass Claude Cahun



Je me vois,
donc je suis.

Ich sehe mich,
also bin ich.


 

Die Heliogravüre zum 2. Kapitel Moi-même wird kompositorisch von einer starken Vertikalen dominiert. Am unteren Rand befindet sich ein Auge mit einem Selbstporträt Cahuns in der Pupille. Der homophone Klang von englisch „I“ (ich) und „eye“ (Auge) findet hier die bildliche Entsprechung im Text: „Ich sehe mich, also bin ich.“ Das Auge dient der Selbstbetrachtung – die surrealistische Trope mimt der Spiegel. Oben links und oben rechts rahmen den Spiegel als Herzstück die seitenrichtigen Schultern mit Arm, die einem Selbstporträt Cahuns von 1928 entstammen – die einzige Aktaufnahme, die von Cahun existiert und die mehr verbirgt als sie preisgibt. Aus dieser Fotografie in die Montage übernommen sind auch die angewinkelten Beine am rechten Bildrand. Mit dieser Darstellung von Weiblichkeit stellte Cahun, laut Peter Weibel (siehe Publikationsempfehlung von 1997, S. XXXVII), die Frage nach der „kulturellen Konditionierung der Geschlechtlichkeit“. Wie wird das Selbst in der Kultur konstruiert? Cahun kritisierte mit der Zerlegung des Körpers zugleich das voyeuristische Frauenbild des Surrealismus, das sich meist aus Männersicht präsentierte.

Drei selbstreferentielle Textfragmente aus Aveux non avenus, eines in Form einer Hand, zwei gefaltet nach Origami-Art, komplettieren das Arrangement der Körperteile.

 

Claude Cahun, Aveux non avenus, 1930, Paris: Éditions du Carrefour, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Nachlass Claude Cahun
Claude Cahun, Aveux non avenus, 1930, Paris: Éditions du Carrefour, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Nachlass Claude Cahun

 

Das Manuskriptblatt (aus dem 7. Kapitel) Mitte links verlangt, die Karten neu zu mischen. „Neuter ist das einzige Geschlecht, das mir immer entspricht“, formuliert Cahun hier. Bedenkt man, dass in Deutschland das sogenannte „dritte Geschlecht“ Ende 2018 eingeführt wurde, war Cahun der Zeit fast 90 Jahre voraus. Sowohl Cahuns Texte als auch die Fotomontagen in Aveux non avenus verweisen aufeinander, aber auch auf andere Werke Cahuns. Eng verwoben sind vielfältige Anspielungen auf Mythen, Philosophiegeschichte, Kulturkritik. Ziel und Mittel der künstlerischen Erprobung ist das eigene Selbst, der eigene Körper. Das Kompendium der verschiedensten Texte und Fotomontagen hält dabei stets mehrere Sinnebenen bereit und entzieht sich konstant einer einfachen Lesart. Wer Gefälligkeit sucht, ist hier falsch. Und gerade deshalb sollte ein Blick in dieses visuell und literarisch einmalige Werk gewagt werden, denn Cahuns Blick auf die Welt ist immer noch – und vielleicht mehr denn je! − aktuell.

 

Empfehlungen zur Vertiefung

Publikation

Heike Ander/Dirk Snauwaert (Hrsg.): Claude Cahun. Bilder


München: Schirmer/Mosel, 1997

Publikation

Susanne Elpers: Auto­bio­graphi­sche Spie­le. Tex­te von Frauen der Avant­garde


Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2008