01. Mai 2020

Zum Tag der Arbeit:
Willi Sittes „Chemiearbeiter am Schaltpult“

 

Auf dem Gründungskongress der Zweiten Internationalen Arbeiterassoziation wurde 1889 der 1. Mai als jährlicher “Kampftag der Arbeiterbewegung” ausgerufen, der erstmals 1890 begangen wurde. Dieser “Kampftag”, der mit Massenstreiks und Kundgebungen verbunden war, wurde in Erinnerung an die blutigen Auseinandersetzungen in Chicago drei Jahre zuvor ins Leben gerufen, wo infolge von Streiks und Demonstrationen zur Etablierung des Achtstundentages mehrere Demonstranten und Polizisten ihr Leben verloren hatten.

Initiativen zu einer gesetzlichen Feiertagsreglung für den 1. Mai in Deutschland waren in der Weimarer Republik an den parlamentarischen Mehrheiten gescheitert. Einmalig war er am 1. Mai 1919 ein Feiertag. Erst die Nationalsozialisten machten den Tag 1933 zu einem gesetzlichen Feiertag. Nach 1945 wurde die Feiertagsregelung in den Ländern der Bundesrepublik wie auch in der DDR bestätigt.

In der Sammlung unseres Museums befindet sich mit dem 1968 vollendeten Gemälde Chemiearbeiter am Schaltpult von Willi Sitte (1921–2013) ein Werk, das wie kein anderes in unserer Region mit dem Kampf der Arbeiter für ihre Rechte und die damit verbundenen politischen Positionen assoziiert wird. Und auch im Werk Sittes selbst nimmt dieses Bild eine besondere Stellung ein.

In der Kunst der DDR, die sich selbst als Arbeiter- und Bauernstaat definierte, spielte das Motiv des Arbeiters eine zentrale Rolle. Doch ging es nicht um eine bloße realistische Darstellung der arbeitenden Bevölkerung; von entscheidender Bedeutung war die Haltung, die die dargestellten Arbeiter einnahmen, und damit verbunden die Aussage, die die Künstler mit ihren Werken vermittelten. Das politisch Erwartete unterlag dabei Veränderungen im Laufe der Jahre.

Wesentlich mehr als in der Bundesrepublik wurde die Entwicklung der Kunst nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR massiv kontrolliert, reguliert und staatlich dirigiert. Gerade in den Anfangsjahren des Staats ging es um die Durchsetzung des Sozialistsichen Realismus, der sich am Vorbild des Realismusverständnisses der Sowjetunion orientieren sollte. Sittes frühe Arbeiterbilder wie der Studierende Arbeiter, einer Tafel aus dem Polyptychon Unsere Jugend von 1962, erfüllte die formalen Erwartungen und Anforderungen nicht. Werke wie diese wurden als “formalistisch” kritisiert und abgelehnt. Sie beschäftigten sich für die Kulturpolitikern der SED zu sehr mit formalen, innerkünstlerischen Fragen, die sie über Fragen des Inhalts gestellt sahen. Zudem ist der junge Arbeiter zu sehr passiv in seiner Stube sitzend und über Bücher gebeugt dargestellt.

Willi Sittes Gemälde wurden in den 1950er und 1960er Jahren fortwährend als “formalistisch” abgelehnt. Zu deutlich waren die Auseinandersetzungen mit dem Schaffen von Fernand Léger und Pablo Picasso, dessen Bildnis sich im Hintergrund des Studierenden Arbeiters findet.

Gerade die Künstler in Halle (Saale), die sich in den Jahren nach 1945 ganz bewusst mit der Moderne vor 1933, die die Nationalsozialisten als “entartet” verfemt hatten, beschäftigten, stießen mit ihren Gemälden immer wieder auf heftige Kritik. Als letzter Ausweg entzogen sie sich der kulturpolitischen Bevormundung immer wieder durch die Flucht in die Bundesrepublik. Diesen Schritt ist Willi Sitte aus politischer Überzeugung bewusst nicht gegangen. Davon erzählen wir im Teil Kunst in der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1990 in unserer Sammlungspräsentation Wege der Moderne.

Weitere Informationen zur Sammlungspräsentation
„Wege der Moderne“

Nur sechs Jahre nach dem Studierenden Arbeiter aus dem Polyptychon Unsere Jugend entstand der Chemiearbeiter am Schaltpult. In der Zwischenzeit hatten sich gravierende Ereignisse und Veränderungen im Leben Willi Sittes vollzogen. Infolge unzähliger Auseinandersetzungen schlussendlich von der Partei vor die Wahl gestellt, erschien 1963 in der lokalen Tageszeitung Freiheit Sittes Selbstkritik als Bekenntnis zum Staat und versuchte er, sich das Leben zu nehmen. Ende der 1960er Jahre fand der Künstler mehr und mehr zu einem neuen Malstil, der von der Kulturpolitik nicht mehr als “formalistisch” abgelehnt wurde.

Wie für alle seine großen Gemälde hat Willi Sitte auch seinen Chemiearbeiter zunächst zeichnerisch vorbereitet und das Motive in anderen Werkzusammenhängen wiederverwendet. Die hier abgebildete großformatige Zeichnung gehört zum Zyklus Im Geiste Lenins, der 1969 anlässlich des 100. Geburtstages von Wladimir Iljitsch Lenin entstand.

Sitte hat das Motiv hier gegenüber dem im Jahr zuvor entstandenen Gemälde vereinfacht. Der Betrachter blickt auf einen Arbeiter, der mit gesenktem Kopf in seine Tätigkeit vertieft ist. Im Gemälde war ihm eine deutlich interessantere, spannungsvollere Komposition gelungen, denn der Arbeiter schaut frontal zum Betrachter, der jedoch von ihm durch eine virtuelle Wand getrennt ist. Die ungewöhnliche Darstellung gelang ihm, indem er das Bildnis so anlegt, als blicke der Betrachter durch einen der Knöpfe, die der Arbeiter am Schaltpult bedient.

Formal ist zwar das konstruktive und flächige vom Beginn des Jahrzehnts zurückgenommen und das Motiv stärker malerisch angelegt, für die Kritiker der offiziellen Kulturpolitik war jedoch auch dieses Werk zunächst noch zu sehr von formalen Fragen bestimmt. So verkennt das Urteil eines namentlich nicht genannten Journalisten in der Neuen Osnabrücker Zeitung am 27.02.2006 die Tatsachen, wenn er schreibt: Mit Gemälden wie diesen erwarb sich Sitte einen soliden Ruf als linientreuer Vertreter des Sozialistischen Realismus.”

Artikel „Körperkult und Nähe zur Macht“ auf www.noz.de

Vielmehr brauchte es einige Jahre, bis das Gemälde aufgrund seines Inhalts, nicht seiner Form, kanonisiert und in den 1970er, vor allem den 1980er Jahren tatsächlich als vorbildliche Arbeiterdarstellung auf zahlreichen Ausstellungen in der DDR und im Ausland zu sehen war und sich über Abbildungen in den Schulbüchern in das Bildgedächtnis einer ganzen Generation eingrub. Erstmals ausgestellt war das Gemälde im Jahr seiner Entstehung, 1968, im westdeutschen Darmstadt in der Ausstellung Menschenbilder!

 

Sitte revisted

2002 entstand das nebenstehende Gemälde des halleschen Künstlers Moritz Götze (* 1964). Es trägt den Titel: Am Schaltpult (nach Willi Sitte). Es gehört in die Reihe der Re-Realismus-Werke Götzes, der sich zu Beginn des Jahrtausends in der ihm eigenen humorvollen Weise mit Ikonen der DDR-Kunstgeschichte auseinandersetzte.

Der Vorlage gegenüber um ca. ein Fünftel vergrößert, zeigt Götze Sittes Chemiearbeiter im Wesentlichen in der vertrauten Art und Weise, jedoch transformiert er das Bild in den ihm eigenen Pop-Art-Stil und verändert er den Hintergrund sowie Details im Vordergrund. Während in Sittes Gemälde den Arbeiter nichts von seiner Tätigkeit ablenkt, liegen bei Götze im Vordergrund links eine Schachtel Zigaretten und rechts eine einzelne Schraube – wohl ein augenzwinkernder Hinweis auf mangelhafte Produktionsanlagen und das marode Wirtschaftssystem der DDR. Den Hintergrund verändert Götze vom ursprünglichen internen Blick in die Fabrik zu einem die Vorlage karikierenden Ausblick in die Landschaft mit blauem Himmel. Das Gemälde ist eine Schenkung Moritz Götzes an das Museum aus dem Jahr 2015.

Was bleibt?

Was sagt uns das Werk Willi Sittes heute, knapp ein Jahrzehnt nach seinem Tod und drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR? Wie verhalten sich der Künstler Willi Sitte und der Kulturfunktionär Willi Sitte zueinander? Zwei Seelen … ? Mit diesen und anderen Fragen wird sich unsere retrospektive Ausstellung beschäftigen, die wir Ende 2021 präsentieren anlässlich des 100. Geburtstages des Künstlers.

Vorab-Faltblatt „Willi Sitte. Eine Retrospektive" 2021/22
(PDF-Datei, 196 KB)