8. September 2022
Die Nummer 1: Hugo Erfurth porträtiert Joseph Hegenbarth
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …“, heißt es bei Hermann Hesse. Die Auseinandersetzung mit dem „neuen“ Medium Fotografie begann im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) bereits vor über 100 Jahren, Ende des 19. Jahrhunderts, und damit außergewöhnlich früh innerhalb der deutschen Museumslandschaft. Die Jahresberichte der Stadtverwaltung Halle (Saale) belegen für die Zeit um 1900 wiederholt Ausstellungen zeitgenössischer Kunstfotografie. Vom 15. Juli bis zum 5. August 1900 zeigte das Museum eine Fotoausstellung, in der unter anderem Aufnahmen des Piktorialisten Hugo Henneberg (1863–1918) zu sehen waren. Er war der Ehemann von Marie Henneberg (1851–1931), deren Porträt von Gustav Klimt (1862–1918) heute zu den Highlights unserer Sammlung gehört. Auch einzelne Erwerbungen fanden in diesem Kontext statt, so ist etwa von Henneberg der Ankauf eines Gummidrucks dokumentiert, der jedoch im Bestand nicht mehr nachweisbar ist.
Mit der zunehmenden Musealisierung der Fotografie in den 1980er Jahren gründete das Museum 1987 eine eigene Sammlung Fotografie. Damit einher ging auch die Etablierung wissenschaftlicher und archivarischer Strukturen. Mit unserem heutigen Blog-Beitrag widmen wir uns diesen – zwar nicht historischen, so doch organisatorischen – Anfängen der Sammlung und betreten damit die wohl für viele Museumsbesucher nur marginal wahrnehmbare, ja fremde Welt der Objektverwaltung. Was zunächst trocken und weit entfernt von jeglicher Kunst klingen mag, ist doch elementar im Museumsalltag und verrät dem wissenden Auge viel über zentrale Aspekte des Kunstwerks und seiner Geschichte in der Sammlung.
Doch auch hier zurück zum Anfang: Jedes Kunstwerk bekommt mit dem Eingang ins Museum eine Nummer und wird so zum identifizierbaren Element in der Museumssammlung. Die Inventarnummer besteht meist aus Buchstabenkürzeln und Ziffern, die sich weiter aufschlüsseln lassen. In unserem Falle nehmen wir das Beispiel MOSPh00001: Moritzburg, Sammlung Photographie, Objekt Nr. 1, vermerkt auf dem Foto, im Inventarbuch, in der Datenbank, auf etwaigen Leihverträgen, Zustandsprotokollen etc. In der Datenbank wird die Nummer verbunden mit den Objektdetails, wie Autor, Titel, Maße, Standort, Versicherungswert, Literaturverweise und Künstlerdaten.
Und wer ist nun die Nummer 1 der Fotosammlung? Der kleine Exkurs zu Beginn zeigt, dass Geschichte und Verwaltung in diesem Moment auseinandergehen, die erste Inventarnummer der Sammlung Fotografie ist nicht gleichbedeutend mit dem als erstes für das Museum erworbenen fotografischen Blatt von Hugo Hennberg. Dennoch fallen zwei bedeutende Namen: Hugo Erfurth (1874–1948) als Fotograf und Josef Hegenbarth (1884–1962) als Porträtierter. Schauen wir zunächst auf Letzteren, liegt hier doch der Schlüssel für den Erwerb der Fotografien 1 bis 3 der Sammlung Fotografie, ebenfalls noch bevor es jene in solcher Form überhaupt gab.
Werke von Josef Hegenbarth
Den Grafiker, Illustrator und Maler Josef Hegenbarth beschrieb seine Frau Johanna Hegenbarth (1897–1988) als „expressiv humanistischen Beobachter“ (Brief an den ehemaligen Direktor des Museums, Peter Romanus, vom 3. Juni 1986). Mit Bleistift, Kohle, weißer Kreide, schwarzer Gouache oder Leimfarbe skizzierte Hegenbarth Mensch und Tier, Jung und Alt, entwarf Alltagsszenen und Märchenwelten, die das Auge animieren, in Bewegung setzen und in den Bann ziehen. Den Großteil seines erhaltenen Werks verwaltet das Josef-Hegenbarth-Archiv in Dresden, das heute Teil des Dresdener Kupferstich-Kabinetts ist.
„Ein paar hauchzarte, dünne, umrißhafte Striche genügen, die bizarre akrobatische Clownerie, das rasch vorüberhuschende toll-dreiste Spiel der Arenamenschen auf das Papier zu bannen und zugleich mit wenigen Kringelkrakeln die Illusion eines von Menschengewühl erfüllten Zirkuszeltes hervorzuzaubern.“Gerhard Händler, Manuskript von 1948 (gedruckt im Ausst. Kat. 1996, S. 11–12) |
Doch auch in Halle schlummern zentrale Bestände, die sich der Affinität des Hauses zum deutschen Expressionismus verdanken: Bereits 1948 richtete der Museumsleiter und Kunsthistoriker Gerhard Händler (1906–1982) Josef Hegenbarth in Halle (Saale) eine große Werkschau ein. 1996 zeigte die Staatliche Galerie Moritzburg Halle/Landeskunstmuseum Sachsen-Anhalt unter dem Titel „Josef Hegenbarth. Zuschauer des Lebens“ eine umfangreiche Retrospektive mit begleitender Publikation. Heute verwahrt das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) über 500 Werke Hegenbarths, überwiegend Handzeichnungen, wenige Gemälde und einige Druckgrafiken. Das meiste kam in den 1980er Jahren von der Witwe Johanna Hegenbarth ins Haus. So auch die drei fotografischen Porträts von Hegenbarth, aufgenommen von dem erfolgreichen Fotografen Hugo Erfurth, die bereits mit Blick auf eine bald zu gründende Sammlung Fotografie angenommen und nun jene ersten Nummern des Fotoinventars bilden.
„An diesem reichen Bestand kann man Hegenbarths Virtuosität als exzellenten Zeichner, die durchgeistigte Sinnlichkeit der auf Wesentliches konzentrierten Illustrationen und seine meisterliche Radierkunst über den Schaffenszeitraum eines halben Jahrhunderts eindrucksvoll erleben und studieren.“Peter Romanus, 1996 |
Hugo Erfurth machte sich seit 1893 als künstlerisch ambitionierter Fotograf einen Namen insbesondere im Großraum Dresden, bevor er 1934 nach Köln übersiedelte. Bekannt ist er insbesondere für seine Porträtfotografien der gesellschaftlichen Größen seiner Zeit aus Kunst und Kultur, Wirtschaft und Politik. Merkmal seiner „bildmäßigen Photographie“ ist ein oft sachlicher Stil, der psychologisierend Charaktereigenschaften der Porträtierten herausarbeitet und in der Umsetzung oftmals auf kunstvolle Techniken wie Pigment- oder Bromöldrucke zurückgreift. Zudem eröffnete er 1922 in Dresden ein „Graphisches Kabinett“, in dem er u. a. Oskar Kokoschka (1886–1980), Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976) oder Carl Hofer (1878–1955) zeigte, mit denen er freundschaftlich verbunden war. In diesem Kontext steht auch der Kontakt zu Hegenbarth, mit dem er wohl Zeichnungen gegen Fotografien tauschte.
„Was für gegensätzliche Deutungen sie [die Porträts, Anm. d. A.] doch darstellen. Man glaubt kaum, den gleichen Menschen vor sich zu haben, aber das war ja gerade Erfurths Kunst.“Johanna Hegenbarth, 16. September 1988 |
Die fotografischen Porträts von Josef Hegenbarth sind Paradebeispiele für Erfurths Schaffen und in der Zusammenschau selbst virtuos in der spielerischen Darstellung verschiedener Charakterzustände: Repräsentativ und selbstbewusst, die Hände in die Hüften gestemmt, den Hut in der Hand, steht Hegenbarth im schwarzen Mantel mit Krawatte vor einem weißen Studiohintergrund. Ganz anders das nächste Bild: Gedankenverloren, sinnierend, ja fast gelangweilt, den Kopf in die Hand gestützt, schaut er hier an der Kamera vorbei. Die linke Hand und das Gesicht treten hell hervor, der abstrakte Hintergrund erscheint als Sinnbild des Gedankenprozesses. Das dritte Porträt zeigt Hegenbarth als Künstler, mit ernstem Ausdruck und im Malerkittel vor der Leinwand.
Spätere Zugänge zur Sammlung zeigen Erfurth als Tanzfotografen: Um 1908 fotografierte er als Erster tanzende Körper in Bewegung bei Kunstlicht. Aufnahmen von Tänzerinnen wie Clotilde von Derp-Sacharoff (1892–1974) und später Mary Wigman (1886–1973) oder Gret Palucca (1902–1993) etablierten ihn als Dokumentaristen des freien künstlerischen Ausdruckstanzes. Ein späteres Porträt von Clotilde von Derp-Sacharoff zeigt die Tänzerin im Stil seiner „bildmäßigen Photographie“. Ist die Tanzabbildung ein Silbergelatineabzug, so verweist die Technik des Pigmentdrucks der Hegenbarth-Porträts auf die künstlerische Verwurzelung Erfurths in den piktorialistisch geprägten Edeldrucktechniken der Jahrhundertwende, die er mit seiner modernen Bildauffassung gekonnt zu kombinieren wusste.
„Besser in der Übereinstimmung zwischen Form, Charakter und Bewegung konnte kaum ein freischaffender Künstler die Tanzenden im Bilde festhalten.“Karl Weiss, Ausstellungsrezension London 1912 |
Mit diesem Blick zurück tauchen wir also nicht nur zu den organisatorischen Anfängen der Sammlung Fotografie, sondern zu denen der künstlerisch ambitionierten Fotografie als solcher zurück. Und dabei zu einem ihrer prominentesten Vertreter, der, und da schließt sich ein weiterer Kreis, zumal in Halle (Saale) geboren wurde. Dass Hugo Erfurth auch als Reproduktionsfotograf für das Museum tätig war und in diesem Zuge Gemälde etwa von Lyonel Feininger fotografiert hat, zeigen weitere Fotografien mit Schlagwort „Erfurth“ in der Sammlung. Die ersten Nummern der Fotosammlung verdeutlichen damit sowohl den qualitativen Anspruch als auch die oft sammlungsübergreifende Vernetzung. Es sind gerade diese vielfältigen Quer- und Mischbezüge, die immer wieder zu Entdeckungen innerhalb des Museums führen.