29. Juli 2021

„… ein rascher Blick genügte nicht“

ohne Titel, Potsdam, 1986, von Frank Gaudlitz

 

Für alle, die die jüngst zu Ende gegangene Ausstellung „OST. SÜD. Frank Gaudlitz. Fotografien 1986-2020“ (bis 18. Juli 2021) des Fotografen Frank Gaudlitz im Potsdam Museum – Forum für Kunst und Geschichte verpasst haben, geben wir hier einen kleinen Einblick in sein Schaffen und stellen ein besonderes Foto aus unserer Sammlung vor, das im Werk des Künstlers eine zentrale Rolle spielt.

Frank Gaudlitz (*1958 in Vetschau) kam 1986/87 auf Umwegen zur Fotografie und studierte bis 1991 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig (HGB) bei Arno Fischer. In seinen Bildern widmet sich Gaudlitz dem Menschen als Individuum sowie seiner sozialen Einbindung in Gesellschaft und Raum. Zwischen Leichtigkeit und Intensität, Nähe und Distanz gelingt es ihm, Alltagsmomente mit einem starken emotionalen und visuellen Ausdruck zu versehen, der die Betrachtenden eintauchen lässt ins Gezeigte.

 



Der Mensch in seiner Einmaligkeit, seinem Geworfensein in Zeit und Gesellschaft ist mein Grundthema geblieben.

Frank Gaudlitz

 

Der Katalog zur retrospektiv angelegten Ausstellung in Potsdam gibt einen strukturierten Einblick in Frank Gaudlitz‘ Œuvre. Edel wirkt der grafisch gestaltete, silbrig schimmernde Leineneinband, dem als Farbexplosion ein tieflilafarbenes Vorsatzpapier folgt. Als erstes Motiv im Katalog, noch vor der Titelei, ist ein Rückenakt abgebildet, aufgenommen 1986 – ein Bild, das sich als Teil des Bildarchivs des Fotokinoverlags auch als Dauerleihgabe in der Fotografischen Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) befindet und den Startpunkt unserer Betrachtung bildet.

 

Frank Gaudlitz: ohne Titel (Männerakt), 1986, Bromsilbergelatine, 296 x 353 mm, Dauerleihgabe Fotokinoverlag Leipzig, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Frank Gaudlitz

 

In einer Fensternische steht ein Mann, die Arme zu den Seiten gestreckt, die Hände fest an den Wänden, den Oberkörper spielerisch nach vorn gebeugt. Links und rechts ist der Raum teilweise verschattet, der Blick wird auf die Figur und das Schattenspiel auf der hell erleuchteten linken Wand gelenkt. Die unregelmäßigen Konturen der Wände, des Fensterrahmens und der im Hintergrund zu erkennenden Mauer laden das Auge zum Verweilen ein und heben die Gemachtheit und den beginnenden Verfall der Dinge hervor. Und doch sind sie im Vergleich mit dem Körper geradlinig: Beine, Gesäß, Rücken- und Armmuskulatur setzen der linearen Wirkung des Raums runde, organische Formen entgegen. Als dritte, kleinteilige Formvariante flirren vor dem Fenster die Blätter eines Baumes im Sonnenlicht. Im Wechselspiel von Architektur und lebendiger Präsenz gelingt Gaudlitz eine komponierte Momentaufnahme eines sonnendurchfluteten Nachmittags, scheinbar herausgehoben aus Zeit und Raum, die zum gedanklichen Verweilen einlädt. Woher rührt die dynamische Pose der Figur, was manifestiert sich in ihr, was drückt sie aus?

Claudia Schubert umkreist das Motiv in ihrem Text zu Gaudlitz‘ Porträtserien: „Könnte diese Haltung des Abstützens aber nicht genauso als Geste des Beiseitedrückens gedeutet werden, als der Versuch einer Person, sich aus der Enge des Raumes zu befreien, um sich in die Welt zu begeben, die schon durch das geöffnete Fenster lockt? Dann könnte das Motiv als Sinnbild eines Aufbruchs, vielleicht gar des Entdeckerdrangs des Fotografen selbst gelesen werden.“ (in: Ost. Süd.Frank Gaudlitz, S. 155)

 

Doppelseite aus dem Katalog „Frank Gaudlitz. Fotografien 1986-2020“, Bild: Frank Gaudlitz: Ohne Titel, Potsdam, 1986 © Frank Gaudlitz

 

Es handelt sich in gleich mehrfacher Hinsicht um ein Schlüsselmotiv in Gaudlitz‘ Schaffen: Zunächst im pädagogischen Dienst tätig, bespielte er privat eine kleine Galerie mit Ausstellungen und geriet dabei ins Visier der Staatssicherheit. Die berufliche Suspendierung und zwei Jahre Arbeitslosigkeit waren die Folge. Während dieser Zeit wandte sich Gaudlitz der Fotografie als Medium zur Verarbeitung des Geschehenen und als Mittel zur Neuausrichtung zu: In besetzten Abrisshäusern inszenierte er eine kleine Serie von Aktfotografien, aus der auch dieses Bild stammt, die um das Thema der Auflehnung des Individuums kreisten. Mit diesen Fotos bewarb sich Gaudlitz an der HGB und wurde angenommen, sein Leben nahm eine neue berufliche Ausrichtung.

Es handelt sich zudem um das erste Motiv, das von Gaudlitz publiziert wurde – und zwar 1988 in der April Ausgabe der Zeitschrift „Fotografie“ (S. 152), die vom Fotokino-Verlag herausgegeben wurde, als Teil einer Besprechung der Potsdamer Bezirksfotoausstellung von 1987. Ist die in der Zeitschrift „Fotografie“ erschienene Besprechung primär geprägt vom staatlich gefärbten Jargon, so vermag sie doch herauszustellen: Was „in Bildern wahrgenommen und durch sie ins Bewußtsein aufgenommen wird, vermag Nachdenklichkeit auszulösen. […] Da reicht ein rascher Blick meistens nicht.“

 

Zeitschrift Fotografie, Ausgabe 4, 1988, S. 148–153, mit Werken von Joachim Liebe und Dieter Lange ( S. 148–149); Karsten Prausse, Eberhard Thonfeld und Walter Wawra (S. 150–151); Frank Gaudlitz, Rex Schober und Karsten Prausse (S. 152–153) © Joachim Liebe, Dieter Lange, Karsten Prausse, Walter Wawra, Eberhard Thonfeld, Frank Gaudlitz, Rex Schober, Karsten Prausse

 

Stellte T. O. Immisch, ehemaliger Kustos der Sammlung Fotografie des Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), aus eben jenem Bildarchiv des Fotokinoverlags 2016 einen Überblicksband zur Aktfotografie in Osteuropa (2016) zusammen, so fehlt Gaudlitz‘ Motiv darin. Denn auch wenn ein rascher Blick das Motiv wohl dem klassischen Genre der Aktfotografie zuweist, so gehört Gaudlitz‘ Motiv in gewissem Sinne vielmehr zu jenem Teilbereich der Darstellung des Körpers, der sich mit politischen Themen, mit emotional aufgeladenen Sujets befasst, deren Träger der nackte Körper sein kann und die performativ oder bildlich an und über diesen abgearbeitet werden.

 



Mit der Aktfotografie fällt die Wahl von Frank Gaudlitz auf das Bild als Spiegel der unverhüllten, schutzlosen Körperlichkeit, das zugleich im Sinne der Genesis der Ursprung der menschlichen Existenz und der körperimmanenten Kraft ist.

Jutta Götzmann, Einleitung (in: Ost. Süd. Frank Gaudlitz, S. 5)

 

„Man könnte sagen,“ formuliert Gaudlitz selbst, „dass die Arbeit an diesen Bildern eine Form der Gegenwehr zur unverstandenen staatlichen Willkür darstellte und über die Zeit des Berufsverbots und der regelmäßigen Überwachung durch die entsprechenden Behörden hinweghalf. Nicht ganz unwesentlich hatten mich die Restriktionen des Staates auf einen fotografischen Weg geleitet. […] Die Motivation für diese frühen inszenierten Aufnahmen, aus innerer Betroffenheit fotografisch zu reagieren, prägt bis heute meine Arbeitsweise.“ (in: Ost. Süd. Frank Gaudlitz, S. 160)

Der Rückenakt unserer Sammlung stellt somit einen zentralen Zugang zu Gaudlitz‘ Werk dar. Serien wie Die Russen gehen (1991–1994) und mehr noch Russian Times (1988–2018) zeigen eindrücklich, wie jene innere Motivation sich in einem Gespür für Momente äußert, in denen sich Persönliches mit Geschichtlichem verschränkt. So begleitete Gaudlitz ab 1991 den Abzug des russischen Militärs aus der DDR, zumeist noch in Schwarz-Weiß fotografiert. Eine offizielle Fotoerlaubnis gab es nicht, oft verbotenerweise bahnte der Fotograf sich seinen Weg zu den Truppen. Die Bilder zeigen Soldaten im Leerlauf, herumstehend, wartend, die Sinnfrage implizierend, wie bei diesem intensiven Gruppenporträt dreier junger Männer, deren militärisch straffe Haltung längst abgefallen ist. Kritisch fixiert der mittlere Soldat die Kamera, der Blick des Betrachters verfängt sich jedoch im Auge des sich auf den LKW stützenden Kameraden, das Gesicht halb in der Armbeuge verborgen.

 

Frank Gaudlitz: Garde-Panzerdivision, Altes Lager, April 1992, aus der Werkgruppe „Die Russen gehen“ (1991–1994) © Frank Gaudlitz

 

Russian Times (1988–2018) fasst mehrere Projekte zusammen, die sich mit Russland in der Zeit vor, während und nach der Wende befassen. Es ist eine Art psychologisches Gesellschaftsporträt mit Blick zum Individuum sowie den Resten sozialistischer Bildsprache im öffentlichen Raum. Gaudlitz‘ Aufnahmen von Denkmälern etwa zeugen von der memorialen Einbettung des Krieges in den russischen Alltag. Wie bei der Aufnahme aus dem Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges entstehen fast absurd wirkende Bildkonstellationen, die den vielschichtigen gesellschaftlichen wie individuellen Umgang mit Geschichte reflektieren.

 

Frank Gaudlitz: Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges, Moskau, März 2018, aus der Werkgruppe „Russian Times“ (1988–2018) © Frank Gaudlitz

 

In Warten auf Europa (2003–2005) trat Gaudlitz von der teilnehmenden Beobachtung in den dialogischen Austausch und widmete sich den Menschen im Donauraum mit einer konzeptuell angelegten Porträtserie. Mittelformatkamera, Ganzkörperporträt, Farbe, vergleichbare Distanzen und Hintergründe, die oft unscharf ins Ungewisse verlaufen oder durch Wege und Kreuzungen als Schnittstellen erscheinen, sind die Koordinaten dieses Projekts. Die Bewohner und Bewohnerinnen der osteuropäischen Anrainerstaaten wurden zudem nach ihren Wünschen und Hoffnungen befragt, ihre handschriftlich notierten Kommentare ergänzen als mediale Erweiterung die Fotografien.

 

 

In Casa Mare (2006–2008) erlangt der Hintergrund eine weniger symbolische, konkretere Bedeutung: Der Mensch wird verortet in dem ihn umgebenden, prägenden und von ihm geprägten Raum, in dem sich individuelle Vorlieben und kulturelle Traditionen verbinden. Der Moment des Inszenatorischen erhält eine neue Bedeutung, indem Gaudlitz die Porträtierten bat, ihre Festtagskleidung für den Fotografentermin anzuziehen und so repräsentative Momente in verschiedenen Kulturen herausarbeitete. Auch Sonnenstraße (2010), eine Hommage an den Universalgelehrten Alexander von Humboldt, arbeitet in dieser Weise mit farbigen Porträts, denen als überzeitliche Aufnahmen schwarz-weiße Landschaftsfotografien zur Seite gestellt sind.

 

 

In der Amazonasregion Südamerikas widmete sich Gaudlitz zudem dem Thema Transgender. Seine Serie A Mazo (2013–15) vereint in einer poetisch-sinnlichen Bildsprache die Selbstinszenierung der in männlichen Körpern lebenden Frauen mit vom Fotografen komponierten Stillleben, welche auf mythische Legenden der Region verweisen. Das sich Einfühlen, die Anteilnahme an der Lebenssituation des Gegenübers spielt dabei eine wichtige Rolle.

 

 

„Nach einer gewissen Zeit reift die Fotografie“, sagt Frank Gaudlitz im Interview mit der Kuratorin Jutta Götzmann. Der dem Medium inhärente archivarische Impuls, Präsenz bildlich zu konservieren und rückwirkend als vergangene Präsenz zu reaktivieren, kommt mit der Zeit immer mehr an die Oberfläche. Das wiederholte, nochmalige Lesen des Motivs in verschiedenen Kontexten bietet somit neue Einblicke in das Werk des Fotografen, in unsere Sammlung und schließlich auch in die zeithistorische Entwicklung. Ja es entfaltet selbst ein Netz an Rückbezügen und Details – nicht zuletzt gemahnt die Mauer im Hintergrund unseres Rückenakts an das nahende Jahresdatum zum Bau der Mauer und damit zum staatlichen Kontext, der erst zur Entstehung des Bildes beitrug. Ein rascher Blick, das ist ganz richtig, genügt hier nicht.

 

Empfehlungen zur Vertiefung

Ausstellungskatalog

OST. Süd. Frank Gaudlitz. Fotografien 1986–2020


Frank Gaudlitz und Jutta Götzmann (Hrsg.), mit Texten von Matthias Flügge, Frank Gaudlitz, Jutta Götzmann, Claudia Schubert, Bielefeld: Kerber Verlag, 2020

Publikation

Unverhüllt Schön. Aktfotografie aus Osteuropa 1945–1990


Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) (Hrsg.), zusammengestellt und eingeleitet von T. O. Immisch, Berlin: Das Neue Berlin, 2016

Publikation

Medialisierte Körper. Per­for­man­ces und Ak­tio­nen der Neo­avant­gar­den Ost­mit­tel­eu­ro­pas in den 1970er Jahren


Corinna Kühn, Köln: Böhlauf Verlag 2020