24. April 2022

GERDA LEO und ihr „Neues Sehen“

Eng gefasste Bildausschnitte, Isolierung der Dinge, Spiele von Licht und Schatten, Schärfe und Unschärfe sowie gewagte Perspektiven

 

Von Gerda Leo (1909–1993) befinden sich 796 Fotografien in der Fotografischen Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale). Diese entstanden alle in dem kurzen Zeitraum von 6 Jahren, von 1926 bis 1932, als Gerda Leo an der halleschen ‚Burg‘', den Werkstätten der Stadt Halle, Staatlich-Städtische Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein, ihre künstlerische Ausbildung erhielt und bei Hans Finsler (1891–1972) als Assistentin arbeitete. Dem geografischen Bezug, dem wissenschaftlichen Entdeckergeist des vormaligen Kustos für Fotografie T. O. Immisch und der Großzügigkeit des Nachlasses ist es zu verdanken, dass nach Gerda Leos Tod 1993 die meisten Aufnahmen der Fotografin des „Neuen Sehens“ als Ankauf und umfangreiche Schenkung in unsere Sammlung kamen.

Nach der ersten großen Ausstellung (und Publikation) mit den Fotografien aus dem Nachlass 1994 ist es uns ein Anliegen, Gerda Leos Werk auch digital der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Aus diesem Grund haben wir für die Plattform museum-digital 95 exemplarische Aufnahmen Leos aus ihren verschiedenen Werkgruppen ausgewählt und ganz neu online gestellt. Wir laden also herzlich ein zum Stöbern!

Sammlung Gerda Leo
auf www.museum-digital.de

Dieser Blogbeitrag stellt sich als Appetithappen ganz in den Dienst der Onlinepublikation und führt anhand exemplarischer Werkgruppen in Gerda Leos Fotografie ein.

 

 

1909

 

in Hagen geboren

 

 

1922

 

Tod des Vaters und Umzug der Mutter mit ihren 3 Töchtern nach Halle (Saale)

 

 

1925/26

 

Zum Wintersemester begann Leo 16-jährig ihre Ausbildung in der Klasse für Malerei und Grafik bei Erwin Hahs (1887–1970) an den Werkstätten der Stadt Halle, Staatlich-Städtische Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein (kurz ‚Burg‘).

 

 

1926

 

Wechsel in die Emailwerkstätte von Lili Schultz (1895–1970)

erste fotografische Versuche mit der 9 x 12 Balgenkamera, die sie von ihrem Vater geerbt hatte

 

 

1928/29

 

ab dem Wintersemester zusätzlicher Besuch der Klasse für Fotografie unter Leitung von Hans Finsler (1891–1972)

 
 

1929–1930

 

ausschließlicher Besuch der Fotoklasse

 
 

1929

 

mit 4 Fotografien, u. a. mit „Papiere“, auf der bedeutenden Ausstellung „Film und Foto“ (kurz: FiFo) in Stuttgart vertreten

einige Wochen Assistentin bei Albert Renger-Patzsch (1897–1966) in Essen

 
 

1930–1932

 

Assistentin bei Hans Finsler

 
 1932 

Heirat mit dem Fotografen Jacob d’Oliveira und Umzug nach Amsterdam, Mitarbeit im Familiengeschäft

 
 

1993

 

stirbt Gerda Leo in Amsterdam

 

 

Ein bevorzugtes Sujet von Gerda Leo sind Natur-Darstellungen: Weite Landschaften nahm sie ebenso auf wie Stadt- und Kulturlandschaften, aber vor allem widmete sie sich auch den Pflanzen. Dabei lassen sich zwei Kategorien unterscheiden: mit Licht kunstvoll inszenierte Blumenstillleben und in der Landschaft gefundene – besser gesehene – Pflanzenstrukturen.

Bei den Blumenbildern isolierte Leo oftmals mittels Aus- und Anschnitt eine einzelne Blüte wie z. B. bei der Chrysantheme. In all jenen Aufnahmen spielt das Licht als Seiten- oder Oberlicht in Kombination mit dem Schattenfall oder einem stark verschatteten Hintergrund eine tragende Rolle. Nur so können die Blüten gleichsam selbst leuchten. Mit dieser Art Blumenstillleben steht Gerda Leo in stilistischer Nähe zu den Fotografinnen und Fotografen des „Neuen Sehens“ wie etwa Aenne Biermann (1898–1933) oder auch Albert Renger-Patzsch (1897–1966), für die die Welt der Pflanzen eine große Motivvielfalt bot.

 

 

Die Fotografien von Pflanzen in der Landschaft zeigen mehr als eine einzelne Blüte, viel Umgebung lässt Gerda Leo im Bildausschnitt aber auch hier meist nicht zu. Ihr Blick ist unbestechlich: Auf einem Ausflug im Frühjahr 1929 entdeckte Gerda Leo etwa die „Kirschblüthen“ bei Naumburg als Motiv. Sie fotografierte hier nicht den Baum als Ganzes oder knorrige Äste, sondern wählte bewusst einige wenige Zweige mit voller, zarter Blütenpracht. Nichts im Bildhintergrund lenkt ab. Wie eine grundierte Leinwand stellt sich der Himmel in den Dienst der Blüten. Der Schärfefokus lässt sogar die Blütenstände deutlich sichtbar hervortreten und gibt jedes noch so kleine Detail preis. Und obwohl die wenigen horizontal, vertikal und diagonal verlaufenden Ästchen mit ihrer verschieden starken Ballung an Blüten chaotisch wirken, strahlen sie eine natürliche Ordnung und Ruhe aus. Der Frühling ist da! In all seiner Pracht!

In einer weiteren Werkgruppe beschäftigte Gerda Leo sich mit dem Jahrmarkt. Dieser war ein in der Fotografie der Zeit beliebtes Thema. Auch von Hans Finsler und anderen Schülern der Fotoklasse an der ‚Burg‘ gibt es Nachweise zu diesem Sujet. Im März 1931 besuchte Leo den Jahrmarkt am halleschen Rossplatz und es entstand dort eine kleine Serie.

 

Im Sinne des „Neuen Sehens“ suchte Gerda Leo das Spezifische der einzelnen Gegenstände und Situationen zu erfassen. Bildausschnitt, Perspektive, das Spiel von Gegensätzen wie Licht und Schatten oder Schärfe und Unschärfe dienten ihr als gestalterische Mittel. Gelegentlich untermauert der Titel ihre Absichten, so etwa bei „Es fliegt, es wippt, es dreht sich“. Der angeschnittene Bildrand, die Fokussierung auf einzelne Objekte und ihre diagonale Staffelung sowie vielfältige Lichtreflexe lassen uns in das Geschehen eintauchen. Im Karussel gelingt ihr der Blick auf einzelne Fahrgäste, sodass die Erfahrung nachvollziehbarer wird.

Interessanterweise ruft Gerda Leo mit ihren Kompositionen die eigenen Kindheitserinnerungen an den Jahrmarkt wach: das Kitzeln im Bauch beim Karussell- oder Achterbahnfahren, das leckere Essen, die vielen bunten Lichter und vor allem das Leuchten in den Augen.

 



Man nimmt nur auf,
was schon in einem drin ist.

Gerda Leo

 

Einen großen Teil im fotografischen Schaffen von Gerda Leo nehmen die Studienarbeiten ein, die ebenso immer dem „Neuen Sehen“ verhaftet sind. Gefundene Sujets oder Aufgabenstellungen von ihrem Lehrer Hans Finsler sind Bestandteil dieser Werkgruppe. Finsler stellte den Schülern Aufgaben im Sinne von Anregungen, etwa eine Straße entlanggehen und Menschen mit der Kamera beobachten. Das damit verbundene Ziel war es, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Das erfordert Beweglichsein im Sehen und schnelles Reagieren – sonst ist das Motiv unter Umständen verändert oder gar aus den Augen.

 

 

Gerda Leos Minireportage „Weg zur Burg“ umfasst 3 Fotografien. Der Bildausschnitt in der Fotografie „am Zeitungskiosk“ zeigt ihren geschulten Blick. Parallel zum rechten Bildrand verläuft die Begrenzung des im Profil abgebildeten Kiosks. Der ältere Mann kauft just in dem Moment seine Zeitung. Hinter ihm steht eine interessierte, mit Mantel und Hut wohl gekleidete Frau. Frau, Mann und Kiosk bilden kompositorisch drei aufragende Linien. Durchbrochen werden diese spannungsreich durch die schräg herabhängende Werbung. Bildausschnitt und Komposition stellen in der gefundenen Szenerie die gestalterischen Elemente par excellence dar.

 

Gerda Leo: Weg zur Burg, am Zeitungskiosk, 1930, 60 x 55 mm, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Schenkung Gerda d'Oliveira-Leo, Amsterdam, Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Hans Ulrich Jessurun d'Oliveira, Amsterdam

 

Die Sachfotografien sind klare, wohl komponierte Ding-Arrangements und zeugen von Gerda Leos Fähigkeit, mittels weniger gestalterischer Mittel wie etwa Wahl des Bildausschnitts, Lichtinszenierung und Positionierung eines oder weniger Gegenstände ein ausgewogenes Verhältnis von Ding-Präsenz und schlüssiger Bildform zu erreichen. Ein Beispiel besonderer Raffinesse ist die Materialstudie einer „Kugel“.

 

Gerda Leo: Kugel, 1928/29, Silbergelatine, 83 x 111 mm, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Schenkung Gerda d'Oliveira-Leo, Amsterdam, Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Hans Ulrich Jessurun d'Oliveira, Amsterdam

 

Da ist zum einen das Offensichtliche: das Ausspielen der glänzend glatten, spiegelnden und festumrissenen Kugelform gegen die umgebenden weichen und diffusen Formen und Materialien. Auf einer Seite in einem ihrer 8 Fotoalben arrangierte Leo 3 Aufnahmen bestehend aus einer Studie über Federn, der vergrößerten und ausgeschnittenen Kugel sowie eben diese Aufnahme. Puzzleteil für Puzzleteil fügen sich die verschiedenen Materialien zusammen. Zum anderen nutzte Leo die spiegelnde Kugel auch für ein Selbstbildnis – nur sichtbar in der starken Vergrößerung. Direkt neben den weit geöffneten Fenstern, die das Licht auf der Kugel erzeugen, positionierte sich Leo hervorschauend hinter der auf dem Stativ stehenden Kamera. Leo trägt ein Kleid, hat sich zurechtgemacht und hat ganz bewusst entschieden, sich zentral auf dem Glanzkörper abzubilden.

 

Gerda Leo: Kette und Kästchen, 1927/28, Silbergelatine, 88 x 102 mm, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Schenkung Gerda d'Oliveira-Leo, Amsterdam, Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Hans Ulrich Jessurun d'Oliveira, Amsterdam

 

Diese kleine Auswahl zeigt die Kreativität, die Vielseitigkeit und das Können Gerda Leos. In Landschaften, Studien- und Sachfotografien war sie ebenso sicher zu Hause wie in ihren Porträts, Auftragsarbeiten oder als Fotografin des studentischen Lebens an der ‚Burg‘. Eng gefasste Bildausschnitte, Isolierung der Dinge aus ihrem Kontext, bewusste Spiele von Licht und Schatten, von Schärfe und Unschärfe sowie gewagte Perspektiven, wie in den hier gezeigten drei Objektstudien, und vieles mehr kennzeichnen ihren Stil und weisen sie als wichtige Vertreterin des „Neuen Sehens“ aus. Und nun, viel Vergnügen beim ausgiebigeren Stöbern!


Zur Vertiefung

Publikation

Neu Sehen. Die Fotografie der 20er und 30er Jahre


hrsg. v. Kristina Lemke, Ker­ber Ver­lag 2021 (Aus­stel­lungs­ka­ta­log des Stä­del Mu­seums, Frank­furt/Main)