07. Oktober 2023

„Eine Kulturtat europäischen Ranges“ (Heinz Lüdecke)

Vor 75 Jahren wurde die zweite Moderne-Sammlung der Öffentlichkeit vorgestellt

 

Innenhof der Moritzburg mit Blick auf das Talamtsgebäude und den anschließenden Wehrgang im Südflügel der alten Residenz, vor 1950, Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt


Die Ausgangssituation

Die Nachkriegssituation in der Saalestadt unterscheidet sich in einigen Aspekten wesentlich von der der meisten anderen deutschen Städte: Die Stadt hatte kaum Zerstörungen durch die verheerenden Bombenangriffe der Alliierten erlitten und verfügte demzufolge nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur über eine intakte Infrastruktur, sodass der gesellschaftliche Neuanfang unmittelbar begonnen werden konnte. Nicht zuletzt aufgrund dieses Umstands wurde die von der Sowjetischen Militäradministration (SMA) installierte Regierung der Provinz Sachsen, des späteren und heutigen Landes Sachsen-Anhalt, im Juli 1945 – noch im Vorfeld der Potsdamer Konferenz – in Halle (Saale) und nicht in Magdeburg, der zweiten Großstadt der Provinz, installiert. So hatte auch das 1885 als Museum für Kunst und Kunstgewerbe in der halleschen Moritzburg eröffnete Museum keine Zerstörungen und nur wenige kriegsbedingte Verluste von Sammlungsobjekten erlitten. Es war durchgehend als Ausstellungshaus genutzt worden und wurde nach einer kurzen Schließphase zur „personellen und sachlichen Entnazifizierung und Entmilitarisierung“ gemäß Direktive Nr. 24 des Alliierten Kontrollrats vom 12. Januar 1946 und infolge der Befehle Nr. 51 vom 4. September 1945 und Nr. 85 vom 2. Oktober 1945 der SMA bereits ab Frühjahr 1946 wieder mit wechselnden Ausstellungen bespielt – beginnend am 9. Mai mit der „Kunstausstellung der Provinz Sachsen“. Es war die erste einer jahrzehntelangen Reihe von regelmäßig stattfindenden Leistungsschauen, 1947 bis 1952 des Landes Sachsen-Anhalt, bis 1989 des Bezirks Halle.
 

Das kommunale Kunstmuseum wurde bis Ende 1947 im Wesentlichen durch den halleschen Stadtarchivar Erich Neuß (1899–1982) geleitet, der im Zuge seiner Entnazifizierung in unterschiedlichen Positionen, teils als Referent im Volksbildungsamt der Stadtverwaltung, teils nominell als Direktor des Museums, von der Stadt beschäftigt wurde. Neuß war in Personalunion zudem Leiter des Stadtarchivs, der Stadtbibliothek und des Händelmuseums. Am 3. November 1947 wurde mit Gerhard Händler (1906–1982) erstmals wieder ein amtlich bestellter Kunsthistoriker Direktor des bis 1933 für die Kunst der Moderne so bedeutenden Museums.

Händler stand bei Antritt seiner Aufgabe vor einer nicht geringen Herausforderung: Es ging um die Wiederherstellung des Museums als Haus mit einer eigenen Sammlung, eines Museums jedoch, das bis zur verheerenden Aktion „Entartete Kunst“ der Nationalsozialisten im Sommer 1937 für seine herausragende Sammlung der Kunst der Moderne national etabliert war, im Herbst 1947 allerdings nur noch über Rudimente dieser einstigen Sammlung verfügte.

Die erste Moderne-Sammlung des Museums haben wir 2019 in der Ausstellung „Bauhaus Meister Moderne. Das Comeback“ rekonstruiert.

Weitere Informationen zur Sonderausstellung „Bauhaus Meister Moderne. Das Comeback“

Ein bloßes Wiedereinrichten des Museums war nicht möglich. Zunächst musste eine neue Sammlung moderner Kunst zusammengetragen werden. In diesem Zusammenhang beeindrucken die Kraft und Intensität sowohl in qualitativer als auch quantitativer Hinsicht, mit der sich Gerhard Händler um den Aufbau einer neuen Moderne-Sammlung kümmerte. Binnen elf Monaten war es ihm gelungen, 129 Werke der Moderne und der Gegenwart anzukaufen sowie 146 Leihgaben von Künstlern und Sammlern zu organisieren.


Sammlerische Aufbauarbeit

Einen bedeutenden Anteil an dieser Leistung hatte Werner Mayer-Günther (1914–1979). Der aus Nürnberg stammende Maler war seit August 1945 als Regierungsrat und Leiter des Referats Bildende Kunst in der Abteilung Kunst und Literatur der Landesverwaltung tätig. In dieser Funktion oblag ihm die Überwachung des Kunstgeschehens im Land und war er verantwortlich für die jährliche Durchführung der Landeskunstausstellungen sowie die Ankäufe von Werken aus Mitteln des Landeshaushalts. Damit war er für Gerhard Händlers Aufbau der neuen Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) die entscheidende Schlüsselfigur. Beide Männer unternahmen denn auch wiederholt gemeinsame Fahrten in die Westsektoren Berlins, um mit den dortigen Galeristen Ankäufe zu verhandeln und zu realisieren.

Im Laufe des Jahres 1948 gelang es Gerhard Händler, auf diese Weise eine neue Sammlung der Kunst der Moderne und in der jüngsten Vergangenheit entstandener Arbeiten zusammenzustellen, also die Verluste der Aktion „Entartete Kunst“ notdürftig auszugleichen und moderne Positionen seit 1933 zu berücksichtigen. In seiner kleinen Schrift zur Eröffnung der neuen Sammlung konstatierte Händler unter dezidierter Berufung auf seine beiden Vorgänger Sauerlandt und Schardt bzgl. seiner Motivation:

 

 

Allein ein lebendiges Wiederanknüpfen an die Leitsätze seiner Blütezeit gibt die Gewähr für einen neuen Aufstieg.

Gerhard Händler, 1948
 

 

Trotz aller – zum Teil bis heute – offen gebliebener Wünsche war es Händler gelungen, in weniger als einem Jahr eine Sammlung zusammenzustellen, die Heinz Lüdecke (1906–1972) in der „Berliner Zeitung“ am 8. Oktober 1948 als „eine Kulturtat europäischen Ranges“ einstufte, „eine Leistung, die den Ruf, den Deutschland einst als Pflege- und Bewahrungsort der Kunst genoß, zu einem Teil wiederherstellt.“

Dabei vermochte es Händler nicht nur, sich in den Traditionen Sauerlandts und Schardts zu bewegen, sondern auch eigene, neue Akzente zu setzen. Dazu gehören jene Künstler, die er bereits in den 1930er Jahren als Direktor der Anhaltischen Gemäldegalerie in Dessau und 1947 als künstlerischer Leiter der Galerie Henning in Halle (Saale) ausgestellt hatte und die bislang noch nicht oder mit nur wenigen Arbeiten in der Sammlung vertreten waren. Es handelt sich um den Kreis um Otto Mueller und Oskar Moll, die zwischen 1919 und 1932 an der Kunstakademie in Breslau lehrten, wie zum Beispiel Alexander Camaro und Ludwig Peter Kowalski. Ferner organisierte er Arbeiten französischer Künstler, wie Aristide Maillol, Albert Gleizes, Maurice de Vlaminck, Othon Friesz und Raoul Dufy, und von deutschen Künstlern mit einem ausgeprägten Frankreich-Bezug, wie Hans Purrmann, Rudolf Levy und Paul Strecker. In besonderem Maß berücksichtigte Händler bei seinen Ankäufen Berliner Künstler aus dem Umfeld Karl Hofers. Werke von Hofer selbst erwarb er vorwiegend über Eduard Henning, während Alexander Camaro, Ernst Schumacher, Max Kaus, Fritz Cremer, Horst Strempel und Otto Herbig in erster Linie über die Kleine Galerie Walter Schüler ins Haus kamen. Ebenso erwarb er bei Henning und Schüler Werke der „Alten“ – von Erich Heckel, Christian Rohlfs oder Max Pechstein. Mit den Arbeiten der erwähnten Künstler etablierte Händler innerhalb der Moderne-Sammlung eine umfangreiche Werkgruppe, die durch eine besondere, sinnliche Malkultur, einen erlesenen Umgang mit der Farbe und eine stille, vielleicht melancholisch zu nennende Motivik gekennzeichnet ist. Möglicherweise hat diese immerhin mehr als 30 Werke umfassende und für das hallesche Publikum stilistisch unbekannte Gruppe einen nachhaltigen Eindruck und Einfluss auf die lokale Künstlerschaft gehabt, was die atmosphärische Nähe dieser Arbeiten zu denjenigen der Vertreter der Halleschen Schule der 1950er Jahre erklären könnte.

Bei der Frage nach den finanziellen Mitteln für den Sammlungsaufbau kommt erneut Werner Mayer-Günther zum Tragen. Als Händler im November 1947 seine museale Aufbauarbeit begann, musste er sich nicht erst um die Akquise der dafür notwendigen finanziellen Mittel kümmern, sondern fand diesbezüglich bestellten Boden vor, sodass er sich „nur noch“ um die Ernte kümmern musste. In seinen unveröffentlichten Lebenserinnerungen zitiert Händler einen Brief von Mayer-Günther vom 19. Juli 1949, den dieser ihm nach bei der Übersiedlung in die Bundesrepublik geschrieben hatte. Darin heißt es: „Nach einer über einjährigen Mühe gelang es mir, beim Landtag den Betrag von 600.000 RM (vorgeschlagen hatte ich 2 Millionen) unter dem besonderen Hinweis auf die Wiedergutmachungssituation des Moritzburg-Museums als einen einmaligen Sondertitel für ‚museale Ankäufe‘ zu bekommen.“ Die Gelder standen nur im Haushaltsjahr 1948 zur Verfügung.

Die Eröffnung der neu erworbenen Sammlungspräsentation fand am 7. Oktober 1948 als Teil des offiziellen Festprogramms im Rahmen der Volksbildungswoche des Landes Sachsen-Anhalt statt. Auf dem Festakt im Rundsaal der Moritzburg sprachen Oberbürgermeister Karl Pretsch und Ministerialdirektor Otto Halle von der Landesverwaltung; der Expressionist Max Pechstein hielt die Festrede.

 

Einladungskarte zur Eröffnung der neuen Moderne-Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale), 1948, Archiv Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt

 

Der Tag, auf den Händler so intensiv und zielstrebig hingearbeitet hatte, war Anfang und Ende des Neubeginns des Sammelns und Ausstellens moderner Kunst im halleschen Kunstmuseum. Zunächst jedoch war die Resonanz auf das neu entstandene Museum mit seiner neuen Moderne-Sammlung allgemein höchst wertschätzend, anerkennend und lobend. Selbst die SED-Tageszeitungen „Freiheit“ (9. Oktober) und „Neues Deutschland“ (14. Oktober) rezensierten nahezu gleichlautend überwiegend positiv. So stufte die „Freiheit“ am 9. Oktober 1948 die Eröffnung als „Ereignis von überzonaler Bedeutung“ ein und konstatierte:

 

Soweit der Blick in der sowjetischen Zone auch schweifen mag, eine Kunstsammlung von einer derartigen Geschlossenheit dürfte nicht aufzufinden sein.

 

 

Dabei sei Berlin ausdrücklich eingeschlossen. Aber auch die anderen Zonen werden eine derartige Sammlung kaum aufzuweisen haben.

Freiheit, 9. Oktober 1948

Ansichten der Ausstellung von 1948

 

Was im Einzelnen in den Ausstellungsräumen zu sehen war, ist leider nur partiell überliefert. Zwar gibt es einige Fotos von der Installation der neuen Moderne-Sammlung im historischen Kuppelsaal des Museums. Wie sich der Rundgang durch 150 Jahre Kunstgeschichte von der Zeit um 1800 bis in die damalige Gegenwart insgesamt darstellte, kann jedoch nur aus den Rezensionen erschlossen werden. Vermutlich zeigte Händler in den historischen Räumen des Talamtsgebäudes die Entwicklung von der Sattelzeit der Moderne (Klassizismus und Romantik) über die verschiedenen Strömungen des 19. Jahrhunderts bis zu den deutschen Impressionisten um 1900. Daran schlossen sich in den Wehrgangsräumen und im zentralen Kuppelsaal die Werken der Moderne an, vor allem des Expressionismus.


Kritik an der neuen Moderne-Sammlung

An der starken Ausrichtung der neuen Sammlung auf das Ästhetische und den geringen Anteil sozialkritischer oder gesellschaftlich engagierter Positionen entbrannte binnen kürzester Zeit nicht nur ein Streit, sondern eine Kontroverse, die nahezu allen am Aufbau der Sammlung Beteiligten die berufliche und zum Teil auch private Existenz in der SBZ kostete. Letztlich war es wohl die melancholische Grundstimmung der von Händler erworbenen Werke, die die Kulturfunktionäre der SMA und der Partei störte, ja provozierte. Händlers Sammlung war ihnen zu düster, nicht positiv gestimmt genug. Noch aus jüngst vergangener Zeit bekannte Worte von der Verschwendung staatlicher Gelder wurden gebraucht. So hatte bereits die „Freiheit“ in ihrer Rezension der Museumseröffnung angemerkt:

 

 

Freilich wird die seit Jahren währende Diskussion über das Wesen der Kunst wieder neu entflammt [durch Händlers Zusammenstellung der Sammlung – Anm. d. Verf.]. Darüber kann es keinen Zweifel geben. Schon vor der Eröffnung ist über die Zweckmäßigkeit dieser Veranstaltung gestritten worden.

Freiheit, 9. Oktober 1948
 

 

Über diesen Streit, der innerhalb der SED und mit der SMA geführt wurde, verloren alle wichtigen Mitarbeiter im Ministerium für Volksbildung des Landes Sachsen-Anhalt, die den Aufbau der halleschen Sammlung mitgetragen hatten, ihre Positionen. Binnen eines Jahres waren alle wesentlich am Aufbau der neuen Museumssammlung in Halle (Saale) beteiligten Protagonisten nicht mehr in ihren Ämtern und hatten „linientreuere“ Funktionäre die Amtsgeschäfte übernommen.

Die geschilderten Ereignisse, die sich seit der Eröffnung der neuen Sammlung des halleschen Kunstmuseums am 7. Oktober 1948 bis Ende des Jahres ereigneten, standen in einem direkten Kontext der Formalismus-Realismus-Debatte in der SBZ, die im November 1949 mit dem Erscheinen des Artikels „Über die formalistische Richtung in der deutschen Malerei. Bemerkungen eines Außenstehenden“ von Alexander Dymschitz (1910–1975), Leiter der Kulturabteilung der SMA, „offiziell“ entbrannte. Die Grundfrage bzw. das Verlangen nach einer Kunst im Dienste der Gesellschaft bestand freilich seit den ersten Nachkriegsstunden und drückte sich u. a. 1946 in Otto Halles Geleitwort zur „Kunstausstellung 1946 der Provinz Sachsen“ aus, in dem er schrieb: „Die neue Kunst wird in der Form realistisch und im Inhalt vom Sozialismus bewegt sein.“


Kulmination der Ereignisse

Am 21. Januar 1949 erhielt Gerhard Händler unangekündigten Besuch von Gerhard Strauss (1908–1984) von der Deutschen Zentralverwaltung in Ost-Berlin. Der in Ostpreußen aufgewachsene Kunsthistoriker hatte in Königsberg bei Wilhelm Worringer studiert, war seit 1932 Mitglied der KPD und nach seiner kulturpolitischen Tätigkeit in russischer Kriegsgefangenschaft ab September 1945 Leiter der Abteilung Bildende Kunst in der Deutschen Zentralverwaltung in Ost-Berlin, der zentralen deutschen Verwaltung der SBZ unter sowjetischer Aufsicht. In dieser Funktion verfolgte Strauss eine doktrinäre kulturpolitische Linie, die der Durchsetzung des Sozialistischen Realismus diente. Damit musste ihm Händlers Wirken in Halle (Saale) ein Dorn im Auge sein. Gemäß seinen unveröffentlichten Lebenserinnerungen war Strauss „entsetzt“ und „bemängelt[e] scharf das Fehlen gesellschaftspolitischer Gesichtspunkte und das Fehlen von Kunstwerken ‚realistischen Stiles‘“. Er vermisse Werke von Hans Baluscheck, Frans Masereel, Otto Nagel und Oskar Nerlinger. Händler warf er vor, die Sammlung nach subjektiven Aspekten und das Museum als ein „Klassenmuseum“ aufgebaut zu haben, weswegen er Händler zur Auflage machte, Werke der genannten Künstler zu erwerben und am Beginn des Rundgangs zu den Werken der Moderne den Hinweis anzubringen: „bürgerliche Verfallskunst und Ansätze zur neuen Gestaltung“. Damit reproduzierte Strauss wörtlich die ideologische Sprache der Nationalsozialisten und steigerte sich in seiner Tirade sogar dahingehend, dass er bemerkte: „Die genannten Künstler zeigten seiner Ansicht nach bereits Ansätze zu einer neuen Kunst, die die bürgerliche Dekadenz ablösen werde. Die Expressionisten seien der Widerschein des Faschismus.“ Schließlich habe Strauss gefordert, „dass die Ansprüche des Proletariats, das in Halle und dicht um Halle […] massiert ansässig sei, in den Museen weitestgehende Berücksichtigung finden müsste.“ Händler wurde zur Auflage gemacht, binnen 14 Tagen ein Konzept vorzulegen, „wie das Museum im Sinne von Herrn Dr. Strauss korrigiert werden könne“; zudem sollte eine „Ausstellung älterer Kunst (von Gotik bis Barock)“ aus den beschlagnahmten Bodenreformbeständen vorbereitet werden.


Der Besuch und die Auflagen stehen auch im Kontext der geplanten umfassenden Ausstellung Conrad Felixmüllers (1897–1977), die von der SMA initiiert und oktroyiert worden war und von der Deutschen Zentralverwaltung entsprechend nachdrücklich in ihrer Umsetzung verfolgt wurde. Sie war ein ausgesprochen kulturpolitisches Projekt und fand im April 1949 im halleschen Kunstmuseum statt. 

 

 

Hierfür sollte Händler seine erst kürzlich eingerichtete neue Sammlung fünf Monate nach ihrer Eröffnung wieder abbauen. Dagegen wehrte er sich verständlicherweise, zumal er auch grundlegende Bedenken hinsichtlich der Qualität der Werke Felixmüllers hatte. An Händler als Museumsdirektor vorbei wurde durch Gerhard Strauss über die Nutzung seines Hauses entschieden, was – in Verbindung mit den Ergebnissen des Besuchs am 21. Januar – zu Händlers Entscheidung geführt haben muss, die SBZ zu verlassen. „Ich habe mich gezwungener Weise nach Ablauf des Termines [die erwähnte 14-Tagesfrist – Anm. d. Verf.] mit dem Vorwand einer Dresdner Dienstreise am 7.2.49 mit meiner Familie in den britischen Sektor von Berlin geflüchtet.“ Mit Datum vom 12. Februar hatte Händler eine handschriftliche Kündigung an den Leiter des städtischen Volksbildungsamtes verfasst, in der er angibt:

 

 

Es ist mir unter den in letzter Zeit auferlegten Bedingungen, besonders nach dem Eingreifen von Dr. Strauß-Berlin, leider nicht mehr möglich, meine Tätigkeit als Direktor des Moritzburgmuseums auszuüben, wie es mir mein Wissen und Gewissen vorschreibt.

Gerhard Händler, 1949
 

 

Mit Wirkung vom 14. Februar wurde Erich Neuß noch einmal mit der kommissarischen Leitung des Museums beauftragt.


Neuerliches Ausschließen und Wegsperren der unliebsamen Moderne

Im Verlauf des Jahres 1949 erfolgte die Etablierung der Landesgalerie Sachsen-Anhalt, eines Zusammenschlusses verschiedener Sammlungen und Museen. Die Vorbereitungen hierzu liefen bereits seit 1948 und waren sicher ein weiterer Grund, der zu Händlers Weggang führte, befürchtete er doch – zurecht –, künftig noch weniger als bisher Herr im eigenen Haus zu sein. Nachdem im Dezember 1949 der Hamburger Kunsthistoriker Hans Kahns (1887–?) neuer Direktor des halleschen Kunstmuseums in der Moritzburg geworden war, bereitete dieser die Neuordnung der Händler’schen Sammlungspräsentation vor, die am 10. Juni 1950 im Rahmen der Festspielwoche Sachsen-Anhalt mit dem Motto „Kunst im Kampf für Einheit und Frieden“ zusammen mit einer Käthe Kollwitz-Sonderausstellung eröffnet wurde.

 

Hans Kahns bei der Begutachtung eines Gemäldes zusammen mit dem Restaurator Willi Heimlich und der Sekretärin Frau Gemeinhardt (?), Zeitungsfoto, um 1950
Einladung zur Eröffnung der Neupräsentation der Sammlung von Hans Kahns und der Käthe Kollwitz-Ausstellung, Juni 1950, Archiv Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt

 

Kahns versuchte, die Forderungen Gerhard Strauss’ umzusetzen und dabei trotz allem auch ästhetische statt ausschließlich gesellschaftspolitische Kriterien walten zu lassen. Die neue Präsentation versah er am Beginn des Rundgangs mit dem Motto „Kunst als Spiegel der Gesellschaft“. Er integrierte Werke aus den Sammlungen der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau und aus Bodenreform-Kontexten und versah jeden Raum mit einem Text, der das Verständnis der präsentierten Werke und ihre Einordnung lenken sollte. In der SED-Tageszeitung „Freiheit“ legte Kahns seine Konzeption dar und schrieb: „Wir wollen keine kunsthistorischen Schulzusammenhänge zeigen und Stilgeschichte treiben […]. […], so lassen wir ihn [den Besucher – Anm. d. Verf.] in erster Linie erkennen, in welcher Weise die jeweiligen gesellschaftlichen Bestimmungen das Kunstschaffen beeinflußten.“

 

Eingangsbereich zur Neupräsentation der Sammlung von Hans Kahns, Juni 1950, Foto: Walter Danz, Archiv Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt

 

Wie sich Kahns’ Sammlungspräsentation konkret gestaltete, ist aufgrund fehlender Quellen momentan leider nur schwer zu sagen. Da er im Gegensatz zu Händler, der 150 Jahre Kunstgeschichte erzählte, mittels der Bodenreform- und der Dessauer Bestände auf derselben Ausstellungsfläche 500 Jahre künstlerische und gesellschaftliche Entwicklung aufzeigen wollte, mussten sehr wahrscheinlich viele der von Händler erworbenen Werke aus der Zeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Depot bleiben. Eine überregionale Wahrnehmung, wie sie Gerhard Händlers neue Sammlung 1948 erreicht hatte, erzielte die Landesgalerie und Kahns’ Neugestaltung der Sammlungspräsentation nicht. Im Dezember des Folgejahres, 1951, verließ Kahns Halle (Saale) und ging zurück in seine hamburgische Heimat in der Bundesrepublik.

 

Eine Wand – 5 Ansichten

Hier sehen Sie eine Ausstellungswand des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) im Laufe der Jahrzehnte.

 

Möglicherweise war Kahns’ Weggang durch eine Anweisung von Helmut Holtzhauer (1912–1973), dem Leiter der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten in Berlin, der Vorläuferinstitution des späteren Ministeriums für Kultur, motiviert, dem Kahns’ Umgang mit der Moderne nicht konsequent genug war. Er wies ihn am 8. Dezember 1951 schriftlich an – unter Verweis darauf, dass er „mehrmals auf den Widerspruch zwischen dem Kampf der fortschrittlichen Kräfte Deutschlands um Realismus und Ihre Ausstellungspraxis hingewiesen worden“ sei, „die Werke abzunehmen und zu magazinieren.“ Heinz Arno Knorr (1909–1996), Abteilungsleiter Schlösser, Gärten und Sonderaufgabe Bodenreform in der Landesgalerie Sachsen-Anhalt, setzte schließlich um, wessen sich Kahns entzog und meldete nach Berlin die Magazinierung der Werke von Feininger, Heckel, Kirchner, Lissitzky, Nay, Titzmann und Schmidt-Rottluff.

Nach Kahns Weggang übernahm Knorr kommissarisch die Leitung des Kunstmuseums in der Moritzburg. Nachdem im Zuge der Verwaltungsreform in der DDR die Länder aufgelöst und die Bezirke gegründet worden waren, wurde auch die Landesgalerie Sachsen-Anhalt wieder aufgelöst und das bisherige städtische Museum für Kunst und Kunstgewerbe in Staatliche Galerie Moritzburg umbenannt, als die es bis 2003 firmierte. In diesem Zusammenhang kuratierte 1952 Otto Heinz Werner (1914–2000, Direktor von 1954 bis 1958) eine neue Sammlungspräsentation mit dem Ziel, „eine Abteilung des realistischen Kunstschaffens der Gegenwart in der Galerie einzurichten“ (Brief Werners vom 25. April 1952). Hierfür bat er um finanzielle Mittel, „da wir praktisch nicht ein Gemälde in der Galerie besitzen, welches den gesellschaftlichen Fortschritt und die Entwicklung einer neuen deutschen Kultur zum Ausdruck bringt […].“ Wie Werner sich die Neupräsentation gerade der Kunst des 20. Jahrhunderts konzeptionell vorstellte, verdeutlichen seine Raumtexte. So sollte der Blick auf die Werke der Gegenwart wie folgt gesteuert werden:

 

 

Die Bildende Kunst unserer Zeit setzt sich zum Ziel, Werke zu schaffen, die an das nationale Kulturerbe anknüpfen und das gesellschaftliche Leben unserer Zeit allgemeinverständlich und realistisch zum Ausdruck bringen. Realistisch Schaffen heisst: Darstellung typischer Charaktere unter typischen Umständen bei getreuer Wiedergabe des Details.

Otto Heinz Werner, 1952

 

 

Damit war vier Jahre nach dem fulminanten Neuaufbau des Museums durch Gerhard Händler nichts mehr von dessen Konzept existent und waren nur wenige der von ihm erworbenen Werke noch sichtbar. Heute sind Händlers Erwerbungen von 1948 zusammen mit den 1937 nicht beschlagnahmten Werken der ersten Moderne-Sammlung Max Sauerlandts und Alois J. Schardts und den Rückerwerbungen seit 1990 elementarer Bestandteil der 2017 neu eingerichteten Sammlungspräsentation „Wege der Moderne. Kunst des 20. Jahrhunderts in Deutschland“.

Weitere Informationen zur Sammlungspräsentation „Wege der Moderne. Kunst des 20. Jahrhunderts in Deutschland“

Zum virtuellen Rundgang durch das Museum geht’s hier.