05. Mai 2022

Eine Urne für Novalis

 

Am 2. Mai jährte sich zum 250. Mal der Geburtstag von Novalis (eigentlich Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg, 1772–1801). Das Licht der Welt erblickte der bedeutende Schriftsteller der Frühromantik im Schloss des etwa 40 Kilometer nordwestlich von Halle (Saale) gelegenen Oberwiederstedt, das heute eine Forschungsstätte für Frühromantik und das Novalis-Museum beherbergt.

www.novalis-stiftung.de

2001 stufte es Prof. Dr. Paul Raabe im Rahmen seines Blaubuch-Prozesses als Kulturellen Gedächtnisort nationaler Bedeutung ein.

www.kulturelle-gedaechtnisorte.de

Für eine intensivere Beschäftigung mit der Epoche der Romantik sei ein Besuch des Deutschen Romantik-Museums in Frankfurt am Main empfohlen:

www.deutsches-romantik-museum.de

Obwohl Novalis mit nur 28 Jahren verstarb, hinterließ er ein solch umfangreiches und breit gefächertes Werk aus Texten und Dichtungen zur Ästhetik, Philosophie, Geschichte, Politik und Religion, dass er als „Universalgelehrter“ bezeichnet wird.

Bis heute inspirieren seine Werke Künstlerinnen und Künstler, so auch den schottischen Bildhauer Ian Hamilton Finlay (1925–2006). Dessen Urne für Novalis „An Urn for Novalis“ befindet sich seit 1998 im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale).

 

Ian Hamilton Finlay: An Urn for Novalis, 1997/98, Sandstein, 91 x 33 cm, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Foto: Falk Wenzel

 

Die 90 cm hohe Skulptur aus rötlichem Sandstein, deren Deckel mit einer Flamme abschließt, erinnert mit ihrem Standfuß und dem sich nach unten verjüngenden Mittelteil eher an einen Pokal denn an eine Urne. Die in den Stein gehauene Inschrift lautet nicht – wie zu erwarten wäre – Novalis. Eine Seite des Gefäßes wird von dem Namen SOPHIE geziert, auf der gegenüberliegenden Seite finden sich die Buchstaben XSTUS. Sophie von Kühn (1782–1797) war die sehr junge Geliebte Novalis’, die mit nur 15 Jahren wenige Monate nach ihrer Verlobung mit dem Schriftsteller an Tuberkulose verstarb. XSTUS ist der abgekürzte griechische Name Christi. Der von dem Verlust tief erschütterte Novalis hat beide Namen in einem Tagebucheintrag vom 30. Juni 1797 miteinander in Verbindung gebracht.

Novalis war von dem Verlust der Geliebten so erschüttert, dass ihn selbst eine Todessehnsucht ereilte und sein Werk bis zu seinem eigenen Tod vier Jahre später beeinflusste. So dichtete er in der letzten Strophe der „Hymnen an die Nacht“:

 

 

Hinunter zu der süßen Braut,
Zu Jesus, dem Geliebten -
Getrost, die Abenddämmrung graut
Den Liebenden, Betrübten.
Ein Traum bricht unsre Banden los
Und senkt uns in des Vaters Schooß.

Novalis, Hymnen an die Nacht, entstanden 1797–1800

 

 

Einige Briefe Novalis‘, die er nach dem Tod Sophies an Vertraute sandte, sind in der ARD-Audiothek nachzuhören:

Novalis: Zum Tode Sophie von Kühns (Beitrag MDR Kultur vom 25.04.2022)

In seinem Schmerz über den Verlust ging Novalis so weit, seine Geliebte der Religion gleichzusetzen:

 

 

Ich habe zu Söfchen Religion – nicht Liebe.
Absolute Liebe, vom Herzen unabhängige, auf Glauben gegründete, ist Religion ...

Novalis, Fragmente und Studien, entstanden 1790–1800

 

 

Diese Gleichsetzung des Gottessohnes mit seiner Geliebten visualisierte Ian Hamilton Finlay auf der Urne für Novalis. Nach dessen weltlichem Ableben bleiben zwei Dinge: die Religion und die zur Religion gewordene Liebe. Dass in der Skulptur Finlays beide verewigt sind und somit symbolisch Novalis’ Asche umhüllen, kann als Vollendung einer romantischen Sehnsucht gelesen werden: eine immerwährende Vereinigung des Schriftstellers nach dessen weltlichem Ableben mit seiner Geliebten und der Religion.

Ian Hamilton Finlay selbst bezeichnete seine Werke in Stein nicht als Skulpturen, sondern als „materialisierte Ideen“. So waren es oft andere, die seine Ideen für ihn umsetzten. Der „Urne für Novalis“ verlieh der Bildhauer und Grafiker John Andrew (1933–2021) ihre Form. Ausgehend von Finlays Gedanken der „materialisierten Idee“ entspräche es der „Urne für Novalis“ nicht, wenn sie in einem klassischen musealen Kontext präsentiert würde. Es bedarf einer natürlichen, urwüchsigen Umgebung, wie Finlay sie in seinem wichtigsten Werk schuf: dem drei Hektar große Landschaftsgarten „Little Sparta“, ein unweit von Edinburgh gelegenes nördliches Arkadien, das über 270 Kunstwerke Finlays umfasst. Finlay gestalte ihn gemeinsam mit seiner Frau Sue Finlay von 1966 bis zu seinem Tod.

Little Sparta. The Garden of Ian Hamilton Finlay

Finlay bezog sich in seinem künstlerischen Schaffen häufig auf konkrete historische Ereignisse oder Personen. Ihn nur als bildenden Künstler zu bezeichnen, würde ihm nicht gerecht. Sein Werk bewegt sich im Spannungsfeld aus bildender Kunst, Poesie, Philosophie und Gartenkunst. Er selbst bezeichnete sich eher als Lyriker denn als Künstler.

Die anhaltende Inspirationsquelle von Novalis’ Leben und Werk verdeutlicht die Ausstellung „Poesie und Verstand – eine Widmung an Novalis“ der Kunststiftung Sachsen-Anhalt, in der sich 30 zeitgenössische Kunstschaffende mit dem Künstler und seinem Schaffen auseinandersetzen.

Poesie und Verstand – eine Widmung an Novalis

Dass Novalis’ Werk auch nach 250 Jahren noch rezipiert wird, macht ihn im Sinne seiner eigenen Aussage noch lange nicht zu einem „Alten“:

 

 

Was ist eigentlich alt? Was ist jung? Jung, wo die Zukunft vorwaltet. Alt, wo die Vergangenheit die Übermacht hat.

Novalis