02. März 2022

Ein sensationeller Fund aus der Schenkung der Familie von Knorre: Carl Adolf Senffs Erinnerungsalbum aus Rom

 

Verschollene Werke sind in der Kunstgeschichte keine Seltenheit: Wir wissen von ihnen durch Berichte aus der Vergangenheit, in der sich ihre Spur irgendwann verliert. Die Suche bleibt häufig erfolglos und nur der Zufall bringt das Gesuchte wieder ans Licht. Ein solcher Fall wird im Folgenden erzählt.

Im 18. und 19. Jahrhundert galt Italien vielen nordeuropäischen Reisenden als Sehnsuchtsland. Künstler betrachteten einen Besuch als wesentlichen Bestandteil ihrer Ausbildung. Besonders Rom mit seinen antiken und neuzeitlichen Kunstschätzen, aber auch seiner malerischen Umgebung wurde zum Treffpunkt für Künstler, Sammler, Schriftsteller und Diplomaten. Manche hatten für ihren Aufenthalt Erinnerungsalben angelegt, in die sich andere, deren Bekanntschaft sie machten, mit Wort- und Bildbeiträgen eintragen konnten. Einige solcher Alben haben sich erhalten. Mitunter sind es reine Freundschaftsalben, die einen bestimmten Kreis von Künstlern dokumentieren (auch Liber amicorum genannt – Buch der Freundschaft).

 

Der hallesche Bildnis- und Blumenmaler Carl Adolf Senff (1785‒1863) lebte von 1816 bis 1848 in Rom. Dass er in dieser Zeit bedeutenden Persönlichkeiten wie etwa Karoline von Humboldt (1766‒1829), Henriette Herz (1764‒1847) oder Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809‒1847) begegnete, war schon lange bekannt – dass er manche davon porträtiert hatte, ebenfalls. Walter Meinhof schrieb in seiner 1931 erschienen Senff-Monografie von „Zeichnungen, die er an geselligen Abenden von seinen Bekannten anfertigte und die er dann im Alter als lebendige ‚Souvenirs’ zu einer Art Stammbuch vereinigte, in dem er Briefe von den Dargestellten den Bildern hinzufügte. […] In den letzten Jahren haben viele Blätter aus diesem Buch Liebhaber gefunden; einige Zeichnungen kamen in öffentliche Sammlungen, die Nationalgalerie in Berlin, die Staatsgalerie zu Dessau und das Städtische Museum in Halle.“

Obwohl es klar war, dass Porträtzeichnungen Senffs in den genannten Sammlungen vermutlich aus dem Album stammten, galt dieses selbst als verschollen. Die Erben des Arztes und Familienforschers Georg von Knorre – dessen Familie mit der Senffs verwandt war – fanden nach dem Tod der Witwe eine „Mappe mit Porträtskizzen“, die sie 2020 dem Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) schenkten. Hier erkannte man schnell, dass es sich um das von Meinhof erwähnte „Stammbuch“ handelte – eine kleine Sensation.

Albumseite mit Autographen des Schauspielers und Regisseurs Friedrich Roose (1767‒1818) und der Schauspielerin und Schriftstellerin Johanna Franul von Weißenthurn (1773‒1846), die Senff 1816 in Wien auf der Reise nach Italien kennen lernte; die Zeichnung auf der gegenüber liegenden Seite wurde entfernt. Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt

 

Die Freude darüber wird allerdings dadurch getrübt, dass das Album arg „geplündert“ auf uns gekommen ist: Es enthält heute noch 31 Zeichnungen von Senffs Hand, davon 28 Porträts (einschließlich das seines Hundes Piccard) sowie 14 Autographen von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen – aber zahlreiche Seiten wurden herausgetrennt, Zeichnungen von den Albumblättern abgelöst, sodass von einem Verlust von mindestens 100 Porträtzeichnungen und einer unbekannten Zahl von Autographen ausgegangen werden muss. Die Chance, dass sich das Album aus den Beständen der genannten Sammlungen annähernd rekonstruieren lässt, ist allerdings groß.

 

Oben: Porträt von Marietta Cofratti, Rom, 1832; auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich ein Billett von ihrer Hand. | Unten: Porträt von Senffs Hund Piccard, 1816, auf der letzten Seite des Albums. | Fotos: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt

 

Ein Beispiel verdeutlicht, dass das Album in Verbindung mit den schriftlichen Zeugnissen der Zeit einen Schlüssel für die Aufklärung biografischer Bezüge des Künstlers, aber auch des Lebens im Rom der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bietet:

Mitte Februar 1817 kommt der junge Maler Wilhelm von Harnier (1800‒1838) nach Rom und findet rasch Unterkunft in der Casa Buti, deren Inhaberin mit ihren drei Töchtern eine Künstlerherberge betreibt (von den deutschen Künstlern deshalb „Dreimädelhaus“ genannt). Am 6. März besucht er seinen Hausgenossen Senff, der, so notiert Harnier in sein Tagebuch, „mein Gesicht … sehr appetitlich zum Zeichnen fand“ und bekundete, ihn porträtieren zu wollen. Was daraus wurde, wissen wir nicht – vielleicht klebte Harniers Bildnis einst in Senffs Erinnerungsalbum. Wenige Tage später besucht er in größerer Gesellschaft, zu der auch Senff gehört, das Gasthaus von Lepre in der Via Condotti an der Spanischen Treppe. Mit von der Partie ist der „Hofrat Kölle“ (Christoph Friedrich Karl von Kölle, 1781‒1848), der württembergische Gesandte beim Vatikan. Im Umkreis dieser Gesellschaft muss Senffs Porträtzeichnung Kölles entstanden sein, die er in seinem Album zusammen mit denjenigen des „Grafen Ingenheim“ (Gustav Adolf Wilhelm von Ingenheim, 1789‒1855) und des „preußischen Gesandtschaftssekretärs“ Christian Karl Josias von Bunsen (1791‒1860) auf eine Seite klebte ...

 

Porträts von Christoph Friedrich Karl von Kölle (1781‒1848), Gustav Adolf Wilhelm von Ingenheim (1789‒1855) und Christian Karl Josias von Bunsen (1791‒1860). Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt