03. April 2020

Karl Lagerfeld:
Ballets Russes – Hommage à Nijinsky
2009

#closedbutopen

Der kreisrunde Raum im nordwestlichen Turm des 2. Obergeschosses des Westflügels der Moritzburg ist etwas Besonderes. Vor 500 Jahren diente er der Verteidigung der erzbischöflichen Residenz. Seit 2009 beherbergt er das sogenannte Albert-Ebert-Kabinett – eine Präsentation des singulären Werks des halleschen Künstlers Albert Ebert (1906–76).

Weitere Informationen zum Albert-Ebert-Kabinett

Im Rahmen der Lagerfeld-Retrospektive erhielt der Raum vorübergehend eine neue Bestimmung. Hier findet eine Weltpremiere statt: Karl Lagerfelds Fotoserie als Hommage an den legendären Balletttänzer Vaclav Nijinsky (1889–1950) wird erstmals überhaupt in einer Ausstellung präsentiert.

Dabei inszeniert der Modedesigner und Fotograf das Model Baptiste Giabiconi in der Rolle des berühmten Tänzers in zwei seiner bekanntesten Ballette: L’Après-midi d’un faune (französisch: Nachmittag eines Faunes), 1912 in Paris uraufgeführt in einer eigenen Choreografie des Tänzers nach Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune, und Le Spectre de la Rose (französisch: Der Geist der Rose), 1911 in Monte Carlo uraufgeführt in einer Choreografie von Michel Fokine nach Carl Maria von Webers Komposition Aufforderung zum Tanz in der Orchesterfassung von Hector Berlioz. Anfang und Ende der Fotoserie zeigen Baptiste Giabiconi, wie er in seine Rolle hineinschlüpft und aus ihr wieder zurückkehrt.

 

Vaclav Nijinsky und die Ballets Russes

Nach seiner Ausbildung an der kaiserlichen Akademie in St. Petersburg lernte der russische Tänzer Vaclav Nijinsky (1889–1950) 1908 Sergej Djagilew (1872–1929) kennen, der im Folgejahr seine berühmte Ballett-Compagnie, die Ballets Russes, gründete, mit denen er durch die Welt tourte. Der Tanzstil, der ganz wesentlich durch die Choreografien von Michel Fokine, Léonide Massine und George Balanchine und die Startänzer Nijinsky sowie Anna Pawlowa und Tamara Karsawina geprägt war, revolutionierte das klassische Ballett und wurde stilprägend für die Tanzkunst im 20. Jahrhundert.

 

1909 nahm die Compagnie ihren Sitz in Monte Carlo, wo zwei Jahre später Le Spectre de la Rose uraufgeführt wurde. Die Handlung des nur circa 10-minütigen Stücks ist schnell umrissen: Eine junge Dame kehrt von einem Ball nach Hause zurück und schläft in einem Sessel ein. Die Rose fällt zu Boden. In ihrem Traum erscheint dem Mädchen der Geist der Rose, der durch das Fenster in ihr Zimmer springt und mit ihr tanzt. Nach diesem Pas de deux verlässt der Geist der Rose das Zimmer auf demselben Weg und das Mädchen erwacht.

Wahre Ballettgeschichte schrieb Nijinsky mit seiner eigenen Choreografie des Balletts L’Après-midi d’un faune. Inspiriert von antiker Vasenmalerei schuf er ein circa 15-minütiges Stück, das ausschließlich aus zweidimensional angelegten Posen und Gesten und Mimik besteht. Es war die vollkommene Abkehr vom klassischen Ballett und die Hinwendung zum Ausdruckstanz, wie ihn zur selben Zeit Isadora Duncan (1877–1927) und Mary Wigman (1886–1973) entwickelten.

 

Die Handlung des Balletts ist folgende: Ein Faun liegt in der Hitze eines Sommernachmittags auf einem Felsen und spielt auf seiner Flöte. Da erscheinen sieben Nymphen, die auf dem Weg zu einem nahegelegenen See sind. Da er diese schönen Wesen noch nie gesehen hat, steigt er voller Neugierde und Erregung hinab, um sie zu beobachten. Als die Nymphen ihn bemerken, eilen sie erschreckt davon. Eine von ihnen verliert ihren Schleier, den der Faun aufnimmt und liebkost, als wäre es die Nymphe selbst. Schließlich vollzieht er mit dem Schleier einen Liebesakt.

Vor allem diese Szene des Liebesakts des Fauns allein auf der großen Bühne in dem an eine antike Landschaft erinnernden Bühnenbild von Léon Bakst (1866–1924) rief damals einen Skandal sondergleichen hervor.

 

Karl Lagerfelds fotografische Inszenierung

Hintergrund der Serie ist die Chanel-Modenschau zum Thema Paris-Moscou im Jahr 2009, dem 100. Gründungsjubiläumsjahr der Ballets Russes, in deren Kontext Karl Lagerfeld sein bevorzugtes männliches Model Baptiste Giabiconi in die Rolle des Startänzers schlüpfen ließ. Die Verbindung zwischen dem Haus Chanel und dem legendären Tanz-Ensemble aus Moskau war eng, Coco Chanel unterstützte die Truppe viele Jahre lang – finanziell und auch mit eigenen Kreationen. Wie sie war auch Lagerfeld von der Ästhetik des Balletts fasziniert. Die scheinbar schwerelosen Bewegungen und lässigen Silhouetten prägten ihre Mode. Karl Lagerfeld setzte das Engagement Coco Chanels fort und arbeitete unter anderem mit den Choreografen Uwe Scholz und Benjamin Millepied.

 

Für die Fotos ließ Lagerfeld die Kostüme, die Vaclav Nijinsky 1911 und 1912 trug, Baptiste Giabiconi auf den Leib schneidern und das junge Model in den legendären Posen des Tänzers verharren. In ihrer Präsentation im Rund des Turmkabinetts der Moritzburg entfaltet die Serie, unterstützt durch die Musik von Weber/Berlioz, bei reduziertem Licht eine ganz eigene, auratische Wirkung. Lagerfeld selbst: „Für das klassisches Ballett zählt nur Perfektion.“

 

Das Video zum Ausstellungsbereich

 

Text: Stephanie Jaeckel, Berlin
Sprecher: Ralf Wendt, Halle (Saale)

 

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Bücher

Richard Buckle: Nijinsky, Deutsch von Jürgen Abel, Herford : Busse Seewald, 1987.

Nijinsky. Der Gott des Tanzes, Biographie von Romola Nijinsky, mit einem Vorwort von Paul Claudel und zahlreichen Photographien, übersetzt von Hans Bütow, Frankfurt am Main/Leipzig : Insel Verlag, 1981 (= insel taschenbuch 566).

The Diary of Vaslav Nijinsky. Unexpurgated Edition, edited by Joan Acocella, translated from the Russian by Kyril Fitzlyon, Urbana/Chicago : University of Illinois Press, 2006.

Weblinks

Wikipedia-Eintrag zu Vaclav Nijinsky Mehr erfahren

Wikipedia-Eintrag zu den Ballets Russes Mehr erfahren

Originalaufnahme von Vaclav Nijinsky in L‘Après-midi d'un Faune Video1Video2

John Neumeiers Ballett Nijinsky, uraufgeführt an der Staatsoper Hamburg, 2000 Mehr erfahren

Englischsprachiger Wikipedia-Eintrag zum Film Nijinsky, Regie: Herbert Ross, 1980 Mehr erfahren

Bericht über die Chanel-Show Paris-Moscou von Sarah Mower für die VOGUE vom 03.12.2008 Mehr erfahren

Video von der Chanel-Show Paris-Moscou von CHANEL Mehr erfahren